Wege, die wir gehen – oder auch besser nicht
Von rechts nach Krieg
30.4.24
„Je älter ich werde, desto öfter denke ich über die verworrenen Wege nach, die der Mensch geht, und wie es wohl kommen mag, dass er diesen einschlägt und jenen nicht. Was die Amerikaner als Background bezeichnen – soziale Herkunft, Veranlagung, elterliches Vorbild – dürfte die generelle Richtung dieser Wege bestimmen; aber immer wieder stößt er dabei auf neue Wegscheiden, und wer will sagen, ob es ganz und gar der eigene Wille ist, der ihn veranlasst, sich hierhin zu wenden oder dorthin, oder ob nicht doch der Finger eines Anderen ihm sacht auf die Schulter tippte? Und einmal gesetzt der Fall, dass der Mensch tatsächlich sein Schicksal mit eigenen Händen lenkt, inwieweit tut er es durchaus mit Vorbedacht? Und welche Momente sind es, die ihn im Augenblick der Entscheidung bewegen? War es ein Impuls, fehlgelenkt oder auch völlig richtig gesteuert, von einer Hirnzelle zur nächsten? Oder ein Blick, eine plötzliche Sympathie, ein Einfall aus unbekannter Quelle? Oder wieder nur der pure Zufall, den die Gottgläubigen so gerne begreifen als Willen eines Höheren?
Hätte sich, um ein Beispiel zu nehmen, der junge Flieg an diesem Morgen entschieden, beim Frühstück nicht die Zeitung zu studieren, sondern sein Schulbuch, er wäre nie auf die Nachricht gestoßen, dass die Generalität der Reichswehr eine Anzahl ihrer Offiziere als Instrukteure der Kuomintang-Armee nach China zu entsenden beabsichtige; und wäre ihm, nachdem er während der ersten Schulstunde des weiteren über die Sache nachgedacht hatte, in der zweiten nicht der ziemlich banale Reim >exportieren – Offizieren< eingefallen, so hätte er sich wohl kaum entschlossen, ein ganzes Gedicht zu dem Thema unter der Schulbank zu schreiben und hätte dies Gedicht auch nicht während des protestantischen Religionsunterrichts in der dritten Stunde, von dem er dispensiert war, zur Redaktion der Chemnitzer Volksstimme getragen und wäre somit auch nicht der Mittelpunkt eines politischen Provinzskandals geworden, in dessen Folge er gezwungen war, Deutschland bereits im März 1933 zu verlassen; vielmehr wäre er im Lande geblieben wie andere seinesgleichen und hätte mit großer Wahrscheinlichkeit als Wölkchen über Auschwitz geendet.“
Was Stefan Heym hier beschreibt, geschah ihm, dem 18jährigen Oberschüler mit richtigem Namen Helmut Flieg und Jude, im Jahr 1931 kurz vor seinem Abitur, das an dieser Schule nicht mehr möglich war. Seine Mitschüler verprügelten ihn am nächsten Tag, was er als von 'außen gesteuert' erkannte, da seine Mitschüler nicht die typischen Leser der Chemnitzer Volksstimme waren („denn welcher Chemnitzer Gymnasiast las schon ein Arbeiterblatt wie die Volksstimme“). Die Sozialdemokraten, die in Dresden regierten, empfahlen dem Jungen die Schule zu verlassen und die Nationalsozialisten organisierten eine Versammlung in einer Gaststätte, die sehr zahlreich besucht wurde und Redner mit Rang und Namen auftraten. Unter Beifall und Schmährufen wurde gefordert, dass er niemals ein deutsches Abitur machen und an einer deutschen Hochschule studieren dürfe und „die Landtagsfraktion der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei möge dafür eintreten, dass der Primaner Flieg von der Schule entfernt und verhindert wird, an einer deutschen Schule ein Abiturientenexamen abzulegen. Von sich aus fügte die Redaktion des Chemnitzer Tageblatts hinzu, sie hoffe, dass durch diesen Abend der Staatsanwalt auf den Fall Flieg aufmerksam geworden sei; es gäbe ja das Republikschutzgesetz.......).