Vorwort 1990 EDITION BABELTURM
Zum Wiedererscheinen von Renate Riemecks „Mitteleuropa – Bilanz eines Jahrhunderts“
in Potsdam im Frühjahr 1990
Es entspricht einer inneren Logik, wenn in diesem Frühjahr in Potsdam in einem Verlag, der bis zu den November-Ereignissen vergangenen Jahres illegal arbeiten musste, die dritte unveränderte Auflage von Renate Riemecks „Mitteleuropa“ (zuerst 1965 in Freiburg verlegt) erscheint! - In Potsdam wurde im Sommer 1945 unter dem Stichwort „Terminal“ nach Teheran und Jalta im dritten Anlauf von den Siegermächten versucht, den Nationalsozialismus unschädlich zu machen und seine Ursachen auszuschalten. An diesem Ort inszenierte aber auch Hitler mit Hindenburg am Sarg Friedrichs des Großen seine „Rührkomödie“ (Riemeck) vom 21. März 1933.
Nicht zuletzt hat R. Henrich in seiner folgenreichen Abrechnung mit dem Staatssozialismus in der DDR („Der vormundschaftliche Staat“, Frühjahr 1989, Reinbek) die „Spur Potsdam“ nochmals als Synonym für deutschen Untertanengeist bzw. obrigkeitsstaatliches Denken in Erinnerung gerufen, deren sich auch diejenigen skrupellos bedienten, die vorgaben, ein sozialistisches Gemeinwesen aufzubauen.
Und es ist auch nicht unlogisch, dass die EDITION BABELTURM in einem Wendepunkt der DDR Geschichte eine Historikerin zu Worte kommen lässt, die sich bei aller Faktentreue und Unbestechlichkeit nie in den akademischen Elfenbeinturm hat sperren lassen.. War es doch die Professorin Riemeck, die im Juli 1960 in Nordrhein-Westfalen vom Kultusminister aus dem Prüfungsausschuss der Pädagogischen Akademie Wuppertal abberufen wurde – aus politischen Gründen: Der erste Fall eines akademischen Berufsverbotes in der restaurierten Bundesrepublik. (1) Sie trennt nicht Lehrfreimut und ihr eigenes Verantwortungshandeln in der Gegenwart. Dem Minister gefiel nicht Riemecks Eintreten für die Deutsche Friedensunion.......
Auch ist drittens der Zeitpunkt nicht zufällig, in dem dieses Buch zum erstenmal in der DDR erscheint, hat doch der von Bürgerbewegungen getragene Aufbruch '89 genau jenes politische Element zum Tragen gebracht, das in der Geschichte im Herzen Europas immer wieder Schiffbruch erlitt, scheiterte, denunziert, umgelenkt und bekämpft wurde: Selbständige Menschen machen Politik und nicht Staaten; das Volk schafft sich Organe der Meinungs- und Willensbildung sowie Selbstverwaltung auf allen Lebensgebieten, ohne sich von vermeintlichen oder tatsächlichen Machteliten beherrschen und bevormunden zu lassen! - Auch wenn es nach dem 18. März 1990 so aussieht, als seien diese Gestaltungskräfte nur ein kurzes Zwischenspiel in der DDR geblieben, bekommt doch alles, was vor allem durch Menschen des 'Neuen Forum' und 'Menschenrechte' und 'Demokratie Jetzt' inauguriert wurde, im Kontext von Renate Riemecks Arbeit den Charakter eines Fanals und einer – vielleicht der einzigen – Hoffnung für eine zukünftige Gesellschaftsordnung mündiger Menschen in Deutschland. - Diese Bemerkung scheint paradox, beschäftigt sich die Verfasserin doch mit den hundert Jahren der Mitte der 60er des 19. Jahrhunderts bis zu den Dekaden des 20. Jahrhunderts. Doch fördert sie in ihrer Symptomatologie des Scheiterns mitteleuropäischer Ideen der Föderation, Selbstgestaltung, Wirtschafts- und Betriebsräte, Kulturautonomie und direkter Demokratie eine solche Fülle beklemmender Parallelen zu 89/90 zu Tage, dass diese Folgerung nahe liegt. - Bei Riemeck bleibt es die Frage, brennende und leidvolle Frage, die alle zwölf Kapitel ihres Buches durchzieht: Wohin gehst du Mitteleuropa?
Können die Deutschen ihre wiederholten Irrwege (1871, 1914, 1918, 1933, 1945 in zweierlei Gestalt) in den Machtstaat, statt in den Ausgleich zwischen den Weltgegensätzen nach außen – und den zwischen den sozialen Polaritäten nach innen – umkehren bzw. finden? (2) Vielleicht verleiht solches Fragen dem Wort WENDE erst einen geschichtlichen Wirklichkeitsgehalt?
Es ist das bleibende Verdienst des wissenschaftlichen Sozialismus, sich der sozialen Frage des 19. Jahrhunderts gestellt zu haben – wie auch der Wahrheit, dass es nicht nur darauf ankommt, sie verschieden zu interpretieren, sondern vor allem sie zu verändern.....
Es ist aber auch wahr, das Wissenschaftlichkeit auf die Veränderungen der Erkenntnisfähigkeit selbst anzuwenden ist. Auch das wissenschaftlich-historische Bewusstsein verändert seinen bloß interpretierenden Charakter und wird produktiver Teil der Geschichte selbst. Hier führt uns Frau Riemeck ein gutes Stück weiter.
Die Initiative von EDITION BABELTURM, mit der unveränderten 3. und jetzt hier vorgelegten 4. Auflage, buchstäblich in die Bresche der Maueröffnung zu springen, damit sich soziales Bewusstsein schulen – und verändernd betätigen kann, ist zu begrüßen! - Das greift nicht einer Erweiterung der Schrift vor, die der URACHHAUS Verlag Stuttgart von der Autorin erbeten hat.
Die Buchgestaltung der ersten zweihundert Exemplare hat die Potsdamer Buchbinderei RÜSS besorgt.
Manfred Kannenberg-Rentschler
- Siehe hierzu: „Vaterland – Muttersprache“, Deutsche Schriftsteller und ihr Staat von 1945 bis heute. Wagenbach, Berlin 1979, S, 177
- Hierauf deutet auch Jacob Burckhardts Wort, das neben vielen anderen dieser Art in der vorliegenden Studie zitiert wird: „Wenn der deutsche Geist noch einmal aus seinen innersten und eigenen Kräften gegen diese große Vergewaltigung (durch die äußere, materielle Zivilisation) reagiert, wenn er ihr eine neue Kunst, Poesie und Religion entgegenzustellen imstande ist, dann sind wir gerettet, wo nicht, nicht. Ich sage Religion, denn ohne ein überweltliches Wollen, das den ganzen Macht- und Geldrummel aufwiegt, geht’s nicht.“ (Briefe)
Manfred Kannenberg-Rentschler, Jahrgang 1942, ist Volkswirt am Institut für soziale Gegenwartsfragen und arbeitet seit 1976 als selbständiger Buchhändler in Berlin (West).