Die ewig Gestrige / Strukturwandel


21.10.23


Alten Menschen sagt man nach, dass sie mehr in der Vergangenheit lebten und mit der Zukunft nicht mithalten könnten. Um vor allem geistig jung zu bleiben, müsse man aber Veränderungen akzeptieren und sich selbst auch verändern, also mitgehen. Das fällt mir schwer. Bin ich also so eine Alte, die nicht mitkommt, die in der Vergangenheit lebt und sie womöglich noch verklärt? Eine ewig Gestrige?

Als ich gestern einkaufen ging, holte ich meinen Trenchcoat aus dem Schrank, ein mindestens 23 Jahre alter Mantel für die „Übergangszeit“. Jahrelang habe ich ihn nicht mehr getragen. Er gehört zu den Dingen, die bei mir unter „könnte man irgendwann noch gebrauchen“ laufen. Aber es gab kaum noch Übergangszeiten und entsprechende Kleidung brauchte ich anscheinend nicht. Jetzt schon. Mag vielleicht am Klimawandel liegen oder auch einfach nur am Wetter.

Über Klimawandel hatte ich vor ca. 65 Jahren in der Grundschule schon etwas gelernt, nur dass die Grundschule noch Volksschule hieß und wir im Herbst „Kartoffelferien“ hatten, was man meiner Generation aber auch schon erklären musste. Das war ein Begriff aus den Zeiten, als die Kinder im Herbst bei der Kartoffelernte helfen mussten, sie dort gebraucht wurden.


Natürlich habe ich über Eiszeiten und Wärmezeiten etwas gelernt und wie die Kohle entstanden ist. Klar, ich lebe im Ruhrgebiet. Und ich wusste, dass ich in einer gemäßigten Klimazone lebe und es noch andere gibt. Ich lernte was Findlinge sind und wie sie von den zurückweichenden Gletschern im Land zurück gelassen wurden, ebenso wie einen großen Streifen fruchtbarer Lößerde. Es entstand ein Handelsweg, der Hellweg, der von Westen, vom Rhein, über die Soester Börde bis nach Paderborn ging. Später wurde daran entlang der Ruhrschnellweg angelegt, heute die A43.

Und ich wusste, dass der Bergbau die Umwelt verschmutzte.

Ich erinnere mich an ein kleines Taschentuch in meinem Besitz, Tempo gab es nicht, bei uns wurde noch gewaschen, auf dem stand „Gelsenkirchen – die Stadt der tausend Feuer“ (wahrscheinlich wegen der vielen Fackeln mit denen die Kokereien das überschüssige Koksofengas abbrannten).

Dann gab es den Strukturwandel und das Ruhrgebiet wurde grün, natürlich nicht im politischen Sinne. Heute kann man eine Haldenwanderung machen und die Pflanzenvielfalt bewundern, die sich ohne Eingriffe selbst entwickelt. Oder man macht eine Bootstour und erfreut sich der frischen Luft. Oder man macht einen Waldspaziergang. Jahrelang dachten wir, dass die nun grüne Landschaft uns im Ruhrgebiet saubere Luft bescherte. CO2 war noch keine Thema und was die Bäume angeht, müssen wir wohl auch etwas Falsches angenommen haben.

Das erklärt uns natürlich Bill Gates. Er finanziert Start-Ups, die in tiefen Gruben Bäume vergraben, um das CO2 zu binden. Er sagt: “Das Pflanzen von Bäumen ist noch zu wenig erprobt. Nur Idioten glauben, dass Bäume gut fürs Klima sind.” (https://tkp.at/2023/09/26/wissenschaftler-vs-idioten/


Tja, man lernt nie aus, oder?

Klimawandel und dann auch noch menschengemachter, war nie mein Thema – Umweltverschmutzung schon. Da bin ich mir sicher, dass Menschen was damit zu tun haben und deshalb auch verändern können.


Die Veränderungen im Ruhrgebiet wurden von der Landesentwicklungsstelle mit organisiert und koordiniert. Dachte ich und hielt dies für eine Behörde des Landes NRW. So war es mal am Anfang. Da hatte sich viel verändert, wie ich dann aus dem Internet erfuhr. Ich bin auf die Website der LEG geraten. Da lese ich, dass die LEG in Hattingen 800 Wohnungen vermietet und sich selbst so darstellt:

 „Heimat spüren und ein Zuhause finden bei der LEG
        Als großer deutscher Vermieter bieten wir Menschen

        gutes Wohnen zu einem fairen Preis – made in NRW.

 Besonderen Wert legen wir dabei auf Kundenzufriedenheit

        sowie auf ökologisches und soziales Engagement und gute Unternehmensführung.

        Dafür machen wir uns täglich stark.“

Als Nächstes lernte ich, dass die LEG ein börsennotiertes Unternehmen ist und größte Anteilseigner die beiden US-amerikanischen Investmentgesellschaften MFS und BlackRock sind.

Der deutsche Vermieter kommt also aus den USA.

Außerdem erfuhr ich, dass sie eigene Handwerker beschäftigen, die nicht tariflich gebunden sind. Dabei fiel mir so nebenbei etwas anderes ein. Alte Leute sind so, die kommen von Höcksken auf Stöcksken. In den Firmen, in denen ich gearbeitet habe, war es etwas Tolles, wenn man AT war. Man wurde außertariflich bezahlt, also besser, man hatte sozusagen Karriere gemacht. Das ist eine völlig falsche, alte Vorstellung, wie ich hier gelesen habe: https://www.mieterbundnrw.de/fileadmin/user_upload/redaktion/news/Infobrief_TSP_an_LEG-MieterInnen.pdf

Da scheint es keine Mitarbeiterzufriedenheit zu geben. Die LEG lehnt Tarifverträge ab, was heißt, dass sie ziemlich sicher keine höheren Löhne zahlen. Zugleich legen sie sich aber völlig schamlos das soziale, ökologische Mäntelchen um.

Wohnen, Wohnungen in privatwirtschaftlicher Hand, wie das Gesundheitswesen und auch der öffentliche Nahverkehr - Bereiche, die wir existenziell für unser Leben brauchen. Ein Strukturwandel, der zwar wahrgenommen wurde, aber irgendwie einfach stattfand und im Gegensatz zur Begrünung des Ruhrgebiets, mehr im Stillen geschah.


Ich, als ewig Gestrige, wünsche mir, dass das abgeschafft wird. Menschen müssen wohnen, zur Arbeit fahren, ohne dass jemand Unsichtbares damit Profit macht. Menschen brauchen Ärzte und Krankenhäuser, die gut erreichbar sind und jeden verantwortungsvoll behandeln, ohne das jemand Unsichtbares damit Profit macht.

Das wünsche ich mir auch bei dem Klimathema, wo ich in der Schule gelernt habe, dass sich das Klima über Jahrmillionen immer verändert hat, weil es zur Natur dieses Planeten gehört. Ich wünsche mir, dass keine saudummen Auflagen ausgedacht werden, die nur Sondermüll erzeugen. Der macht unsere Erde kaputt.

Dazu wünsche ich mir, dass die Politik sich von diesen Profiteuren fernhält und sich nicht hochdotierte Arbeitsplätze dort für die eigene Zukunft sichert bzw. wünsche ich mir, dass ehemalige Mitarbeiter dieser Profiteure in unserem Land nicht in die Politik wechseln dürfen, wie z. B. Friedrich Merz oder Alice Weidel.

In diesem Zusammenhang möchte ich mal nur in einem Nebensatz, den völligen Schamverlust unserer Politiker beklagen.

War früher alles besser?

Die Frage müsste lauten: wann fing dieser „Strukturwandel“ an? Michael Esfeld* meint, dass es mit dem Mauerfall und dem nachfolgenden Niedergang der Sowjetunion begann, als es nicht mehr erforderlich war, dem Kommunismus ein glaubwürdiges, demokratisches Modell entgegenzusetzen. Manche sagen, dass mit der Öffnung Chinas die Globalisierung Fahrt aufnahm und ein Markt mit billigen Arbeitskräften und Produktionskosten sich auftat. Es ist das neoliberale Wirtschaftsmodell, das auf Ausdehnung, maximalem Gewinn und Sozialabbau setzt und fast zwangsläufig die Globalisierung in Gang setzte. Dazu gehört z. B. auch die Agenda 2010 und Hartz vier.

Bei mir begann das vor 23 Jahren, als ich selbst arbeitslos war und als Betroffene eine negative Entwicklung der gesellschaftlichen Stimmung wahrnahm. Arbeitslosen Menschen wurde unterstellt, dass sie nicht nur kein Interesse an Arbeit hätten, sondern auch noch selbst schuld an ihrem Unglück wären. Jeder, der wollte, würde auch einen Arbeitsplatz finden. Es wurde völlig ausgeblendet, dass Firmen in Länder abwanderten, wo es billige Arbeitskräfte gab. Sie ließen tausende Menschen arbeitslos zurück.

Ich vermute, dass das auch die Geburtsstunde der ganzen Ratgeberliteratur gewesen sein könnte, die vermittelte, dass jeder „seines Glückes Schmied sei“ und es sein persönlicher Verdienst sei, wenn er einen Arbeitsplatz hatte und gutes Geld verdiente.

Das eigentlich Schlimme ist aber, dass ich erst etwas merkte, als ich selbst betroffen war. Vorher hat mich das wenig gekümmert. Vielleicht habe ich auch deshalb nicht gemerkt, wie sich die SPD in ihrem Sozialprogramm dem Neoliberalismus zugewandt hatte. Was aber wirklich geschehen war, lernte ich in der Sendung „die Anstalt“ mit ungefähr 67 Jahren - Privatisierung, Steuersenkung, Sozialstaatsabbau

(https://www.youtube.com/watch?v=vzUNwWpk6CE).


Ich habe was gelernt. Geht doch. Ich kann mich also doch ändern und lernen. Aber „mitgehen“ kann ich nicht!


In Anbetracht all' des Schrecklichen, das nun schon seit zwei Jahren uns erschüttert, bei dem ich mich darüber täuschte, dass es nicht schlimmer werden kann, mögen meine Gedanken unwichtig und nebensächlich sein. Auch kennen wir die Struktur „ihr da oben und wir da unten“ recht gut. Als Günter Wallraff darüber seine Recherchen machte, wurde so etwas noch in den Staatsmedien berichtet. Heute könnten alle Menschen auf eine Flut von Informationen zurückgreifen im Internet. Ich finde es leicht vorstellbar, dass darüber „die da oben“ nicht erfreut sein können. Im Namen des Datenschutzes hat man Einbahnstraßen und verbotene Zonen geschaffen. Aktuell können wir erleben, wie dies weiter ausgebaut wird. Ich lernte Begriffe wie Fake News oder Desinformation. In dem das moralisch unterlegt wurde, änderte sich die Struktur in der Gesellschaft. Jetzt gibt es keine unterschiedlichen Meinungen mehr, sondern „uns“ und „die da“, dazwischen ein tiefer Graben. Und dann auch die Flüchtlinge, Migranten, Asylanten und Ukrainer. Wir sind eine zersplitterte Gesellschaft geworden, die wenig Einigkeit und damit keinen gemeinsamen, starken Protest aufbringt. Von einem „wir“ sprechen nur noch unsere Regierenden.

Uns wird bis hin zum Duschen erklärt, wie „wir“ uns zu verhalten haben, während „die da oben“ ihre Wahlversprechen vergessen und insbesondere ihren Schwur „Schaden vom deutschen Volk abzuwenden“. Das gipfelt dann in solchen Aussagen wie die von Roderich Kiesewetter, Obmann Auswärtiger Ausschuss: „"Ja, das bedeutet auch, dass wir bereit sind die Sicherheit Israels mit unserem Leben zu verteidigen". Unserem Leben? Sind „wir“ bereit dazu?


„Wir“ sind konfrontiert und ausgesetzt einer unbeschreiblichen Hybris, für die Menschenleben nur in ihren Betroffenheitsreden eine Rolle spielen. Wenn wir eine Demokratie wären oder hätten, dann wäre diese Macht „eingehegt“. Das ist Aufgabe der Demokratie. Jetzt erleben wir im Schlepptau der Politik von „God's own country“ wie Begriffe wie Demokratie, Selbstbestimmung, Gemeinwohl oder Rechtsstaat zu Worthülsen der Propaganda verkommen.


Ich weiß nicht, ob es früher besser war. Machtstrukturen gab es schon immer. Aber ich denke, dass ich früher mehr an diese Begriffe und ihre politische Umsetzbarkeit geglaubt habe. Mir scheint, dass wir „gestern“ nicht aufgepasst haben, als der falsche Weg eingeschlagen wurde. Vielleicht ist es erforderlich mal einen Schritt zurückzugehen und sich zu erinnern, wann und wo wir falsch abgebogen sind.

* Michael Esfeld, ordentlicher Professor für Wissenschaftsphilosophie, Universität Lausanne, neuestes Buch "Land ohne Mut"

Interview https://www.youtube.com/watch?v=bo-84Z4Er7Y