Kriegsblind
16.5.22
Kurz vor Kriegsende, so sprach man bei uns zuhause, ist mein Vater an der Ostfront durch einen Granatsplitter verwundet worden und war seitdem kriegsblind. Am 8. Mai 1945 endeten die Kampfhandlungen, am 9. April 1945 war mein Vater 19 Jahre alt geworden.
Seit einundsiebzig Jahren verstehe ich „kriegsblind“ als eine Art Statusbezeichnung, als etwas, was jemand im Krieg geworden ist. Heute entsteht für mich eine andere Bedeutung, nämlich, eine Blindheit gegenüber Folgen und Ursachen von Krieg, von Waffenlieferungen und Hass.
Aber weiter zu meiner Erfahrung:
Viel mehr über den Krieg wurde nicht erzählt. Und ich habe auch keine Fragen gestellt. Glaub ich.
Allerdings zwingt mich die aktuelle, umfassende Kriegsblindheit, wo nicht gesehen wird, was man anrichtet und nichts gewusst wird aus der Vergangenheit, mich mit der Geschichte zu beschäftigen. Was durchaus interessant und positiv von mir erlebt wird. Ich weiß nicht, ob für meine Eltern die Geschichte eine Rolle spielte, ob sie sich mit den damaligen politischen Gegebenheiten auseinandergesetzt haben. Aber es ist doch merkwürdig, dass ich mich nicht an irgendwelche Anklagen oder Hassäußerungen erinnern kann, obwohl beide Eltern Grund gehabt hätten. Nur an „Krieg ist Mist“. Selbst als es später hieß „die Russen kommen“ wurde sich bei uns zuhause über diese Angstmacherei ironisch geäußert. Warum, vor welchem Hintergrund, weiß ich nicht.
Dazu passt auch die kleine Begebenheit kurz vor der Wahl Kennedys zum US-Präsidenten: Ich hatte eine Nachbarin besucht, eine ältere Dame, die alleine im Dachgeschoss wohnte. Damals haben wohl die Kinder im Haus auch mal bei den Nachbarn geklingelt. Wir beide haben dann am Fenster gestanden und Wolkenbilder „interpretiert“. Dabei hat sie ihre Angst über einen wahrscheinlichen Krieg geäußert, wenn Nixon gewinnt. Das hat mich beunruhigt und habe es meinen Eltern erzählt. Ich weiß nicht, was sie gesagt haben, aber von da an habe ich die Nachbarin für ein bisschen verrückt gehalten. Da war ich 10 Jahre alt. Meine Eltern waren übrigens sehr begeistert von dem neuen Präsidenten John F. Kennedy. Und ich dann endgültig beruhigt.
Aus der Pädagogik wissen wir, dass, mehr als das was gesagt wird, das nonverbale Verhalten prägend in der Erziehung ist. Ich weiß nicht, ob meinen Eltern nichts mehr Angst machte oder ob sie dachten, dass es so etwas Schreckliches wie Krieg nie mehr geben wird oder ob sie einfach ihr Kind schützen wollten. Wahrscheinlicher ist das, was Regina Schilling in ihrem Film „Kulenkampffs Schuhe“ (2018) schildert - ein Versuch von normalem Leben, kein Zurückblicken, lieber ein Schauen auf die Zukunft, die immer mehr von Wohlstand geprägt war. Ein toller Film übrigens.
Aus meiner persönlichen Geschichte heraus ist mir jedenfalls dieser plötzliche Russenhass völlig fremd. Auch mein tägliches Leben gibt mir keinen Anlass dazu. Geht es so vielen Deutschen anders als mir?
Auf einmal geht es um Sicherheit. Auch Finnland und Schweden geht es um Sicherheit. Wenn ich Sicherheit brauche, muss es auch irgendwo eine Bedrohung geben.
Hat Russland gedroht? Oder besser gefragt, hat Putin gedroht? Wenn ich das richtig lese, und davon bin ich überzeugt, hat Putin gesagt, dass er reagieren muss, wenn seine Sicherheit weiterhin und weitergehend ignoriert wird. Das sagt er schon seit Beginn seiner Amtszeit. Wie würde ich mich fühlen, wenn meine Nachbarn mich „mit Kettenfahrzeugen besuchen kämen“ (Ken Jebsen) und schon vor der Haustür stehen? Wer bedroht da wen?
Ich fühle mich massiv bedroht! Bedroht von einer Regierung, die das Wohl ihres Volkes zutiefst missachtet, die Zeichen von Rechtsextremismus bei Ungeimpften sieht, aber nicht auf den Uniformen der ukrainischen Soldaten. Die Faschismus mit unseren Steuergeldern unterstützt, Milliarden Euro offen und verdeckt für einen Krieg ausgibt, der von der anderen Seite des Ozeans seit Jahren vorbereitet wurde; die kriegsblind sind.
Die eigentliche Bedrohung ist die Alternativlosigkeit! Ob Impfen oder Waffen! Wie blind, dumm, armselig und erschreckend! Sieht denn niemand, wie wir gegen unsere Nachbarn im Innern wie im Außen aufgehetzt werden?
Wie viel Leid wieder einmal die Propaganda anrichtet?