Fürchten lernen - oder auch nicht


14.7.22


Wenn ich so morgens meine Nachrichtenquellen aufrufe, komme ich mir immer öfters wie jemand vor, der auszog das Fürchten zu lernen. Damit meine ich nicht diese schrecklichen Nachrichten über unsere Zukunft ohne Gas, ohne Industrie, ohne ausreichende Nahrung, sondern die Nachricht dahinter, dass das unausweichlich scheint. Das ist wahrlich erschreckend. Dennoch empfinde ich viel mehr Beklemmung bei den verfälschten Informationen. Und dabei noch mehr mit welcher Überzeugung sie vorgetragen werden. Ich kann nicht glauben, dass die Vortragenden das glauben, was sie sagen.


Es passt einfach nicht in meinen Kopf, was Regierungsmitglieder und Abgeordnete und „Sonstige“ so von sich geben. Es ist zum Fürchten.

So äußerte die Expertin für Sicherheitspolitik, Claudia Major im „Weltspiegel“ vom 26.6.22 „dass die Nato Russland einkreise, wie es oft behauptet wird, kann sie überhaupt nicht erkennen, im Gegenteil.“ Und weiter: „Russland ist nah an die Nato herangerückt, steht im Belarus, steht in der Ukraine, das ist die erste Veränderung und die zweite ist, dass es einen Eskalationswillen gezeigt hat“. Nach Frau Major ist Russland bereit dafür einen Krieg zu führen. Das lässt die Nato natürlich nicht zu und dann wird dem geneigten Zuschauer auf einer Karte gezeigt, wie und in welcher Anzahl in Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien Soldaten stationiert sind und wie ihre Anzahl erhöht wurde. Vielleicht sollte man nächstes Mal auch erwähnen, dass die nicht auf der grünen Wiese so rumstehen, sondern Unterkunft brauchen und Ausrüstung mitbringen, sprich, dass hier ein Nato-Stützpunkt ist. Die Grafik ist deutlich und trotzdem keine Einkreisung erkennbar? „Die Nato muss sich bedroht fühlen“ so die Stimme aus dem Off. Der Widerspruch ist offensichtlich und keiner merkt's?

                                                                  Quelle: antikriegsforum-heidelberg vom 31.5.2014


Was ich für Satire gehalten habe, scheint vielen Menschen bitterer Ernst. Und vor allem denen, die unsere Politik bestimmen. Oder tun die nur so?

Wie blöd ich war, als ich mich gegen Nato-Osterweiterung und vor allem gegen Defender 2020 ausgesprochen habe! Ich Doof, ich!


Durch einen Zufall, den es natürlich nicht gibt, stieß ich bei youtube auf die Aufzeichnung eines Gesprächs mit Erich Fromm von 1977 zu seinem Buch „Haben oder Sein“, was auch seit dieser Zeit so ungefähr in meinem Regal steht:

https://www.youtube.com/watch?v=L_2mn39AU0c


Am Ende des Gesprächs geht es um Verdrängung, darüber, dass alle Daten bekannt sind, sich die Menschen aber so unwohl fühlen, dass sie lieber alles verdrängen, die Einsichten nicht haben wollen. Aus seiner therapeutischen Erfahrung weiß er, dass beim Einzelnen sich Einsichten durchsetzen können, plötzlich etwas klar wird, was eigentlich schon immer gewusst wurde. Da es sich aber oft um „Autoritäten“, z. B. Eltern, handelt, dieses Wissen nicht zugelassen werden kann. Diese Art der Verdrängung ist auch kollektiv möglich. Fromm bringt als Beispiel die Verdrängung in der Hitlerzeit. Für viele Menschen im Ausland sei es unvorstellbar, dass im deutschen Volk niemand von den Gräueltaten Hitlers gewusst haben will. Fromm meint, dass die meisten aber die Wahrheit sagen. Er führt aus, mit meinen Worten etwas verkürzt, dass sie nichts gewusst haben, weil sie nichts wissen wollten. Sie haben es verdrängt, hätten es aber wissen können.


Natürlich spielten Propaganda und Geheimhaltung eine große Rolle. Aber das war nur damals so, oder?


Einsichten oder Erkenntnisse können schmerzhaft sein. Das ist nicht schön. Es ist eine Arbeit, die m. E. von jedem Einzelnen geleistet werden muss. Am besten fängt man mit der Frage an, was mich wirklich davon abhält, mich über andere Kanäle zu informieren als nur über ARD und ZDF; was befürchte ich? Traue ich meinem eigenen Urteil nicht? Oder will ich nicht, dass mein Glauben erschüttert wird? Geht es darum mehr Sicherheit in der Mehrheit zu bekommen? Was fühle ich wirklich? Wovor fürchte ich mich?


Gerade in solchen Zeiten wie die aktuelle, wird deutlich, dass man genau das hätte lernen sollen – sich selbst zu reflektieren. Leider sind wir nicht wie der einfältige Bursche in dem Märchen „Von einem der auszog das Fürchten zu lernen“, der nicht weiß wie es ist sich zu gruseln, sich zu fürchten. Wir fürchten alles Mögliche und lassen uns Angst machen. Und wir vergessen dabei, dass die Angst schon immer ein Herrschaftsmittel war. Die Kirche konnte das sehr gut. Man denke nur an den Ablasshandel und was dem armen Sünder so alles drohte. Es gäbe noch viele andere Beispiele.


So geht Erich Fromm in dem Gespräch von 1977 auch auf die „Russenangst“ ein. Wenn einige Generäle überzeugt seien, so Fromm, dass die Russen eines Tages bis zum Rhein vordringen könnten, eventuell mit Atomwaffen kommen, warum man dann so eine selbstmörderische Politik betreibt? 1977 war die Friedenspolitik Willy Brandts erfolgreich „verdrängt“?


Mich "gruselt" ein wenig die Tatsache, das ich das jetzt nachlesen muss. Habe ich mich früher denn überhaupt nicht für politische Ereignisse interessiert? Deutlich erinnere ich die Zeit geprägt von familiären Ereignissen und ab den 2000er Jahren dominiert von dem Bemühen beruflich Fuß zu fassen, mit 50 Jahren. Aber nein, politisch war es auch die Zeit, wo ich an die Grünen geglaubt habe und und auch an „Die Anstalt“. Schade, dass ich das heute nicht mehr kann. Schade auch, dass Volker Pispers nicht mehr auftritt. Aber nachvollziehbar. Er hat bereits alles gesagt. Einmal wies er darauf hin, dass, wenn irgendwann nachfolgende Generationen dieser hier Vorwürfe machen sollte, die Zuschauer ihre Eintrittskarte vorzeigen sollten und sagen können „Wir waren im Widerstand“. Ich kann zwar keine Eintrittskarte vorweisen, aber für mich feststellen, dass ich schon immer im Widerstand war, von Willy Brandt bis heute und für soziale Gerechtigkeit und Völkerverständigung und gegen Aufrüstung war.


Waren wir das nicht alle mal? Was ist passiert? Mit uns? Kann ich jederzeit und überall noch sagen, was ich denke?


Hans-Joachim Maaz, Psychoanalytiker: „Was ich im Moment von mir weiß, was ich denke, was sich verändern kann, weil das Leben dynamisch ist – wenn das mit dem übereinstimmt was ich tue, tun kann und darf – das ist meine Wahrheit. Aber ich darf das nicht sein, ich darf das nicht sagen, dann ist meine Würde verletzt, dann bin ich verloren, dann bin ich verletzt, dann bin ich entfremdet. Das ist würdelos.“ (….)“Was stimmt für mich, offen, kann ich das leben oder muss ich eine Gesinnung zur Schau stellen – dann verliere ich meine Würde.“

Das finde ich wichtig! Ich weiß nicht wann es anfing, aber mit der sogenannten Pandemie wurde offensichtlich, dass man keine andere Meinung mehr hatte, sondern auf jeden Fall die falsche! Die durfte man natürlich haben, schließlich haben wir Meinungsfreiheit. Aber mit dem Äußern ist es schwierig. Da hat man die Konsequenzen hinzunehmen, nämlich von Diffamierung über Beschimpfung bis dahin, dass man kein Krankenhausbett im Notfall bekommt oder es selbst bezahlen muss.

Das geht gegen das Solidaritätsprinzip und hat nichts mit Demokratie zu tun. Und es geht gegen die Würde des Menschen! Das ist zum Fürchten!

                                                                 https://www.youtube.com/watch?v=_jF67V9ZH5E


Neben dem, was ich so alles (be-)fürchte, hat unsere Regierung ihr eigenes Programm uns das Fürchten zu lehren. Die lebenskünstlerische Aufgabe ist für mich eine Balance zu halten zwischen informiert sein und mich nicht in Furcht versetzen zu lassen. Gelassenheit also zu üben, so schwer es auch ist. In der Gelassenheit übe ich auch die Akzeptanz dessen, was ich nicht ändern kann, aber ohne den Kopf in den Sand zu stecken. Damit bewahre ich mir meine innere Freiheit. Und meine Würde.