Großeltern

Mai 2019 
Für F. zu seinem 20. Geburtstag

Es war am 1. Mai auf einer Kundgebung, als ich mal wieder daran dachte, wie anders mein Start ins Berufsleben aussah, als der meiner Enkelkinder. 
Als ich nach meinem Pseudo-Abi (Abschluss der 2jährige Höhere Handelsschule) ins Berufsleben startete, standen mir jede Menge Türen offen. Ich konnte mir überlegen, wozu ich Lust habe. Ich hatte noch ein Gespräch mit dem Personalleiter. Ich musste mich nicht unter merkwürdigen Bedingungen, gemeinsam mit Mitbewerbern, einem Team vorstellen, nachdem ich nach zig Bewerbungsschreiben das Glück hatte, endlich überhaupt eine Einladung zu bekommen. Ich hatte auch noch das Glück, nach der Familienphase eine staatlich geförderte Ausbildung machen zu können.
Wir haben den Wachstumsgedanken, allgemein wirtschaftlich und persönlich finanziell, mit der Muttermilch aufgesogen und Willy Brand gewählt.
Bei mir hat dann der Alltag die Oberhand gewonnen und das politische Interesse rückte in den Hintergrund. Mit dem „alten“ Bild im Kopf von Frieden, Versöhnung, Sozialpolitik, habe ich eine Zeitlang noch SPD gewählt, ehe ich auf „Grün“ wechselte, ebenfalls mit dem falschen Bild im Kopf. Die Veränderungen in der Parteipolitik hatte ich einfach nicht mitbekommen. Einen „hellen“ Augenblick gab es als Hartz IV diskutiert wurde. Da war ich gerade selbst arbeitslos und durfte praktisch erleben, wie es ist vom „System“ abhängig zu sein. Ich musste eine Schulung mit dem Titel „50+ wir schaffen es“ besuchen. Leider ist man dann schon in einem Alter, wo die Sinnfreiheit und Substanzlosigkeit solch' hoch teurer Schulungen bemerkt wird. Und eben auch die Herabsetzung und Diskriminierung von Arbeitslosen. 
Ich hatte ein Diplom als Kunsttherapeutin in der Tasche, aber die Kliniken z. B., kein Budget mehr für komplementäre Behandlungsmethoden. Das war drei Jahre zuvor, zu Beginn meiner Fortbildung, noch ganz anders. Das war wohl der Gesundheitsreform zu verdanken, die in der Zwischenzeit erfolgt war. Da war ich dann sehr froh, als geschiedene 54jährige, 2004 wenigstens einen Teilzeitjob zu bekommen.

„Die körperlichen und seelischen Erschöpfungszustände beim Ausgebranntsein hinterlassen Lustlosigkeit, oft sogar Hoffnungslosigkeit. Wie kann sich ein ehedem engagierter Mensch neu orientieren, wenn ihm sogar seine Ideale schal oder leer erscheinen, weil sie ausgebrannt sind? Er braucht erstens genügend Zeit zum Neuanfang – Abschalten, Freunde, neue Tagträume -, zweitens ein neues Spielfeld, das ihm entspricht. Er muss zuerst aus der „inneren Emigration“ heraus, dann Hoffnung schöpfen mit anderem Tun.“


Reinhold Messner, Berge versetzen – Das Credo eines Grenzgängers, 2014, blv Buchverlag GmbH&Co.KG; Foto privat

Für meine Enkelkinder beginnt der Stress schon in der Schule. Zukunft? Mindestens Abitur. Schon der Besuch der Realschule scheint die Möglichkeiten für die Zukunft einzuschränken. Meine Enkelkinder haben schon mehrmals versucht, mir Wahlfach, Wahlpflichtfach und das Punktesystem zu erklären, um überhaupt zum Abitur zugelassen zu werden. Ich verstehe es nicht. 
Ich habe als Großmutter diesen Stress für meine Enkelkinder nicht gewollt. Hätte ich es verhindern können? Hätte ich politisch wacher sein müssen?
Ich habe geschlafen. Erst der Reichtum an Zeit hat mein politisches Interesse wiederbelebt. Und Eugen Drewermann gab mir die Richtung vor. Vor vielen Jahren hatte ich mich mit seinen Märcheninterpretationen beschäftigt und ihn wegen seiner Haltung der Kirche gegenüber sehr bewundert. Anfang 2015 begegnete er mir in einem Interview (KenFM im Gespräch) als Friedensaktivist und glasklarer Analyst der politischen Situation in der Welt.
Es wird dieses Wachstum, wie wir es gelebt und verinnerlicht haben, für unsere Enkelkinder nicht geben. Wie wird dann ihre Zukunft aussehen? Welche Gültigkeit hat unsere Vorstellung vom Leben, von der Gesellschaft, von Arbeit und Erfolg? Was können wir Großeltern unseren Enkelkindern mitgeben? Oder müssen wir uns von ihnen die Welt erklären lassen?


"Nur diejenigen, die in ihrem Leben tun, was sie gerne tun, was sie mit Begeisterung tun, was sie aus vollem Herzen tun, werden Erfolg haben.“




Reinhold Messner, Berge versetzen – Das Credo eines Grenzgängers, 2014, blv Buchverlag GmbH&Co.KG; Foto privat

Insbesondere zwei Ereignisse der jüngsten Zeit haben diese Gedanken bei mir sehr verstärkt.
Das eine ist der Wahlwerbespot (Europawahl) von „Die Partei“ (Satirepartei), in dem es um die „Letztwähler“ geht, die, schon auf dem Sterbebett liegend, noch konservativ wählen und somit eine Zukunft bestimmen, die sie selbst nicht mehr erleben. Es wird dafür plädiert, das Wahlrecht auch am Ende des Lebens einzuschränken und nicht nur für die ersten 18 Jahre. Ich finde es zum Teil einen berechtigten Vorschlag. Er kann sehr zum Nachdenken darüber anregen, wo unsere Verantwortung liegt und für wen. Dagegen halten möchte ich, dass ich auf bestimmten Veranstaltungen, z. B. von „Aufstehen“ oder auch bei Vorträgen von Eugen Drewermann hier im Ruhrgebiet, sehr viele Menschen meines Alters treffe. Die dürften für mich auf alle Fälle mit 70 noch wählen.
Das andere Ereignis war, dass ich auf das Buch „ Erde 5.0 Die Zukunft provozieren“ aufmerksam gemacht wurde. Karl-Heinz Lang beschreibt eine Zukunft, die von anderen Werten getragen werden muss (Teilen ist das neue Haben) und von einer fortgeschrittenen Digitalisierung bestimmt wird (das autonome Auto). Ich kann noch nichts weiter zu dem Buch sagen, da ich es noch nicht gelesen habe. Aber ein Satz überzeugt mich: die Digitalisierung ist nicht aufzuhalten. Man muss sehr wahrscheinlich aus diesem IT - Bereich wie K-H. Lang kommen, um sich überhaupt vorstellen zu können, wohin uns das noch führen könnte. Organe aus dem 3D-Drucker? Kaum zu glauben!
Vielleicht wäre es gut, wenn wir uns auf unsere wesentlichen Erfahrungen, bevor das große Konsumieren begann, besinnen. An die Spielgemeinschaften der Straße, in der man wohnte; die „Bande“, die Sandkastenfreundschaft; das eine besondere Geschenk unter dem Weihnachtsbaum; vielleicht auch an Familienfeste, an denen noch gesungen wurde und Gedichte vorgetragen wurden. Also uns an das erinnern, was wir in Gemeinschaften erlebt hatten bevor wir Einzelkämpfer wurden.
Damit meine ich nicht, dass früher alles besser war. Auf keinen Fall. Aber wir haben uns mehr in Gemeinschaften aufgehalten und einfacher gelebt. Wir sind noch mit einer Kanne zum Milchbauern gegangen und haben so unsere Milch gekauft.
Wir sollten uns aber auch an das Schweigen erinnern, das unsere Eltern umgab, sich also auch an das erinnern, was uns gefehlt hat. Haben wir inzwischen gelernt, uns mitzuteilen? Uns emotional mitzuteilen?
Unsere Eltern konnten es nicht. Sie waren geprägt vom Trauma des Krieges* und einer beziehungs- und bindungsverweigernden Erziehung¹. Von ihnen konnten wir das „über uns sprechen“ nicht lernen. Von ihnen haben wir auch nicht gelernt über die Vergangenheit nachzudenken und über die eigene Rolle, die eingenommen wurde. Dabei sollten wir uns besonders bewusst machen, welche unreflektierten Haltungen und Werte uns damit diese Generation „mitgegeben“ hat, um sie unbedingt auf ihre Prägung und Gültigkeit hin zu überprüfen.


„Die Berge, die es zu versetzen gilt, sind in unserem Bewusstsein.“




Reinhold Messner, Berge versetzen – Das Credo eines Grenzgängers, 2014, blv Buchverlag GmbH&Co.KG

Foto: privat


Vor diesem Hintergrund, mit Blick auf eine kaum vorstellbare Zukunft, ist die allgemeine Klage, dass die „Alten“ nicht wertgeschätzt werden, sogar verständlich. Wie auch? Sehr oft höre ich aus dem Seniorenlager Bemerkungen wie „die wollen ja nicht arbeiten, die wollen sich nicht anstrengen“. Ja, zählt das denn noch? Ist die Zukunftsperspektive unserer Jungen denn so, dass Anstrengung und Arbeitswillen sich noch lohnen oder überhaupt reichen? Ist heute nicht das „Image“ das, was zählt? Und nach Persönlichkeit wird gar nicht mehr gefragt? 
Nach K-H. Lang werden zukünftige Generationen weitgehend „arbeitsfrei“ sein. Und die Anstrengung werden Roboter übernehmen. Welche „Werte“ werden dann noch zählen? Und passen zu den Wertvorstellungen einer Wohlstands-Wachstums-Generation?
Gerne wird in diesem Zusammenhang auf das mangelhafte Schulsystem verwiesen; dass keine Lernfreude und -kompetenz vermittelt wird, kein Raum für Kreativität und freie Entfaltung besteht². Denke ich auch.
Aber was könnten Großeltern tun? Wie könnte ihre Rolle aussehen?
Natürlich ist mir Kreativität wichtig. Aber noch wichtiger finde ich die freie Entfaltung. Die kann aber nur in einem Raum der Wertschätzung stattfinden. Und des Verstehens. Das heißt, dass wir miteinander sprechen müssen, neugierig aufeinander sein sollten. Und offen. Wir sollten uns für ihre Fragen und Ängste interessieren. Und sie auf alle Fälle ermutigen, ihren Weg zu gehen! Sie ermutigen, sie selbst zu sein. Und dann werden wir Gemeinsamkeiten entdecken. Denn auch wir „Alten“ müssen uns die Frage stellen, ob wir „wir selbst“ sind. 
Von Martin Buber ist die chassidische Erzählung von Sussja überliefert, der am Ende seines Lebens, wenn er vor Gottes Thron steht, nicht gefragt wird, warum er nicht Moses, sondern warum er nicht Sussja geworden ist. 
Freie Entfaltung heißt also für mich Selbst-Werdung und Selbst-Bewusstsein. Und damit ist man sein ganzes Leben beschäftigt.

„Motivation fällt nicht vom Himmel. Sie steckt in uns allen. Es kommt nur darauf an, sie zu wecken. Jede Motivation ist auf den Einzelnen zugeschnitten. Wollen wir also andere mit unserer Begeisterung anstecken, motivieren, müssen wir auf sie eingehen. Wir müssen diese anderen Menschen vorher kennen.“



Reinhold Messner, Berge versetzen – Das Credo eines Grenzgängers, 2014, blv Buchverlag GmbH&Co.KG; Foto privat

In dem Interview mit K-H. Lang bei KenFM im Gespräch³, sagt er, dass es auf die Haltung ankommen wird. Darauf kam es doch schon immer an, oder? Denken wir nur an die Entwicklung der Atombombe. Aber genau die ist ein gutes Beispiel dafür, welche Haltung zukünftige Generationen in einer Welt des Alles-Machbaren einnehmen wollen und sollten. Ist es hilfreich, wenn wir uns dem technischen Fortschritt verweigern? Oder wäre es besser, wenn wir unsere Bedenken auf die ethische und moralische Komponente lenkten?

Im letzten Kapitel seines Buches, das ich kurz angelesen habe, stellt K-H. Lang sich vor, wie er als Hundertjähriger 2060 vor Studenten der Steve-Jobs-Universität eine Rede hält und u. a. darüber spricht, wie alt die Menschen noch werden könnten. Seitdem beschäftigt mich die Frage, ob ich 130 Jahre alt werden möchte. Natürlich bei relativer Gesundheit. Ist das erstrebenswert? Ich bin ratlos.

Welche Haltung wollen wir einnehmen? Und welche wollen wir vermitteln?
Ist es nicht so, dass bei der Fülle und Komplexität der Ereignisse und Nachrichten wir Großeltern auch Schwierigkeiten haben uns zu orientieren? Oft nicht wissen, was wir glauben sollen?
Mir scheint es so, dass wir Großeltern den Enkelkindern nichts mehr vermitteln können. Diese Rolle, die wir uns, wenn wir ehrlich sind, ja eigentlich wünschen, hat sich überlebt, glaube ich. 
Vielleicht sollten wir damit anfangen: uns eingestehen, dass wir auch Fragen und Ängste haben! Und unterwegs sind. Wie die Jungen! Die Fragen unterscheiden sich sicher darin, ob man am Anfang des Lebens steht oder ob man schon auf das Ende schaut. Sollten wir vielleicht darüber sprechen? Uns mit gegenseitiger Wertschätzung darüber austauschen? Fragen wir sie doch - die Jungen, die Enkelkinder!

"Suchen Sie in Ihren Kindern nicht nach den Schwächen, denn die werden an Normen festgemacht, die oft auch nicht einmal Ihre eigenen Normen sind, sondern Ihnen antrainiert wurden und die nun verdammt fest in Ihrem Unterbewussten verankert sind. Seien Sie vielmehr wachen Blickes ob der Einzigartigkeit Ihrer Kinder und geben Sie ihnen die Möglichkeit, diese ihre Einzigartigkeit zu leben.

Begleiten Sie Ihre Kinder als Helfende, Stärkende, mit Gefühl Vorlebende auf dem Weg derer Einzigartigkeit, statt Sie zu erziehen, zu verziehen.

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Nicht zuletzt, entdecken Sie auf diese Weise vielleicht etwas in Ihrem eigenen inneren Wesen, dass Ihnen hilft, sich selbst zu verstehen — und so Mut macht, sich selbst zu lieben." 


Peter Frey www.rubikon.news/wachsen-meint-lernen


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Literatur-/Quellenverzeichnis

Karl-Heinz Lang, ERDE 5.0 Die Zukunft provozieren,Verlag FutureVisionPress e.K.
³ www.kenfm.de/sendungen/kenfm-im-gespraech/ 

* Zu den Themen Trauma und generationenübergreifende Traumata habe ich insbesondere aus den Büchern von Franz Ruppert, z. B. Trauma und Identität, Kösel Verlag, viel erfahren und gelernt. Es gibt interessante Vorträge von ihm bei der AK Vorarlberg/Wissen fürs Leben, zu sehen unter www.youtube.com/akvorarlberg 

¹ Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind: Über zwei NS-Erziehungsbücher Broschiert – 2010 von Sigrid Chamberlain (Autor), Inhalt:
Adolf Hitler forderte bereits in 'Mein Kampf', daß schon in der 'frühesten Kindheit. die notwendige Stählung für das spätere Leben' zu erfolgen habe. Durch gründliche Ausbildung der Mütter müsse es möglich sein, 'in den ersten Jahren des Kindes eine Behandlung herbeizuführen, die zur vorzüglichen Grundlage für die spätere Entwicklung dient.' 

Mit dieser 'späteren Entwicklung' ist vor allem das nahtlose Sich-Einfügen in die Ideologie und die Institutionen des NS-Staates gemeint. Darum geht es ausdrücklich auch der Ärztin Johanna Haarer, deren Bücher 'Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind' und 'Unsere kleinen Kinder' in vielen Familien während des Dritten Reiches und in den Jahren danach zur Richtschnur für den Umgang mit Babys und Kleinkindern wurden.

Nationalsozialistische Erziehung, basierend auf den sehr genauen Anweisungen von Haarer, war vor allem eine Erziehung durch Bindungslosigkeit zur Beziehungsunfähigkeit. Es liegt auf der Hand, dass nur der an keinerlei Werte und Moral, an kein Gewissen und an keinen Menschen gebundene faschistische Typus auch jederzeit für jeden Zweck und jedes Ziel einsetzbar war.

Es ist an der Zeit, sich auch mit diesem Erbe des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen, mit der Tatsache nämlich, dass der Großteil der im Dritten Reich und in den Nachkriegsjahren Geborenen ins Leben entlassen wurde mit frühen nationalsozialistischen Prägungen, ohne sich jemals dieser Tatsache und ihrer möglichen Folgen bewusst geworden zu sein.

² Ich beziehe mich insbesondere auf Gerald Hüther:
  Mit Freude lernen - ein Leben lang: Weshalb wir ein neues Verständnis vom Lernen brauchen. 
  Sieben Thesen zu einem erweiterten Lernbegriff und eine Auswahl von Beiträgen zur
  Untermauerung Taschenbuch – 15. Februar 2016, Verlag Vandenhoek&Ruprecht