8.9.22


Anker - Spuren


Es gab mal eine Zeit, da habe ich mich nicht einmal gefragt, ob ich gut informiert bin. Was mir an Informationen fehlte, ergab sich oft in Gesprächen. Nun, heute, muss ich mich fragen, ob ich richtig informiert bin, die richtigen Quellen nutze, was an sich schon als Frage ein Fehler ist. Sage mir, was du anklickst und ich weiß, was für ein Mensch du bist. Allein diese Entwicklung wirft eine Menge Fragen auf. Wie konnte es soweit kommen? Ist das noch Meinungsfreiheit? Was geht hier und in der Welt eigentlich vor?

Das sind die Fragen nach dem Hintergrund und mein Bedürfnis zu verstehen, Zusammenhänge zu erfahren, um eventuell eine Einordnung vornehmen zu können und daraus für mich eine Einstellung ableiten zu können. Das hat sich als eine naive Vorstellung heraus gestellt. Es gibt nur „Schritte“, die gewissermaßen den Schleier Stück für Stück über die Ereignisse heben. So kommt es mir vor. Auf diesem Weg hat sich für mich ein „Forschungsprojekt“ zu einem über fünfzig Jahre alten Text ergeben und gleichzeitig eine Verknüpfung meiner Biografie mit Geschichte, um das mal so großkotzig zu formulieren. Das war spannend und erhellend. Aber die Verbindung mit der eigenen Geschichte hat etwas erdendes, es ist als ob ich im Meer der Informationen einen Anker auswerfe.

*

Es gab schon immer Verschwörungen, geheime Absprachen und Absichten hinter den Absichten. Bei Regierungen und unsichtbaren Kreisen dahinter. Und es gab das Volk, das dafür in Kriege zog, aufgeheizt von dem, was ihm erzählt wurde, weil es eben auch die Medien gab, die die Regierung unterstützten, auch ihre Kriegstreiberei, und es gab immer schon die Diskreditierung von Kritikern und Andersdenkenden.

Heute bin ich live dabei. Das ist das Einzige, was anders ist. Vielleicht noch, dass durch die Digitalisierung und den zahlreichen „Stimmen“ im Internet eine anscheinend größere Verbreitung stattfindet. Ich rege mich auf, bin entsetzt und empört.

Dann habe ich das Buch „Mitteleuropa – Bilanz eines Jahrhunderts“ von Renate Riemeck gelesen und es ergab sich für mich die Frage, ob ich das eigentlich muss oder sollte, mich so aufzuregen?

Das Buch verhalf mir zu einer distanzierteren Sichtweise. Es handelt von einem Stück Zeitgeschichte, stellt Zusammenhänge und Bestrebungen dar, die bis in unsere aktuelle Zeit reichen. Genau weiß ich nicht mehr was letztlich der Anlass war, dass ich meinte, mich mit dem ersten Weltkrieg befassen zu müssen.

Jedenfalls erinnerte ich mich, dass ich doch genau zu diesem Thema ein Buch besitze. Ich habe es regelrecht „ausgegraben“.


Das Buch stammt aus der Zeit meiner zweiten Ausbildung, der zur Waldorferzieherin. Im Januar 1993 hatte ich es gekauft, weil wir es in der Ausbildung für den Sozialkundeunterricht brauchten. In meiner ersten Ausbildung wurde ich Programmiererin für Nixdorf Computer. Da habe ich wohl gelernt in aufeinander aufbauenden Schritten zu denken. Auch das Buch ist so aufgebaut. Der Einstieg fiel mir schwer. Die ersten Seiten musste ich mehrmals lesen. Aber dann erkannte ich die Struktur, manches, was ich vorher nicht verstanden hatte, klärte sich auf und dann lief das Lesen problemlos. Nicht, dass ich alles verstanden habe. Es ist kompliziert.

 

Übrigens gehört es zu meinen Alterserfahrungen, dass ich vieles weiß oder wusste, aber heute anders, tiefer oder auch zum ersten Mal verstehe. Das ist in vielen Bereichen so, nicht zuletzt in Bezug zu meiner Biografie. Jedenfalls habe ich durch das Buch über die Zeitgeschichte des ersten und zweiten Weltkriegs ein Stück meiner eigenen „Zeitgeschichte“ wieder entdeckt.

Ich kann mich nicht an den Namen des Lehrers erinnern, aber sein Gesicht, seine Gestalt habe ich deutlich vor mir, seine fettigen Haare voller Schuppen und die Speicheltröpfen in den Mundwinkeln. Seine inneren Werte drangen nicht sehr ins äußere Erscheinungsbild. Er war engagiert, freundlich und großzügig. Einmal fand eine Unterrichtsstunde in seinem Garten mit Kaffee und Saft statt. Ich meine auch, dass er Skrupel hatte, den erwachsenen Frauen in einem Fach, für das er Interesse und Begeisterung wecken wollte, Zensuren zu geben. Aber haben wir, in der Klasse waren mehrere Berufs-Wiedereinsteigerinnen und Umschülerinnen zwischen 30 und 45 Jahren, das zu würdigen gewusst? - Ich tue es hiermit heute und hebe besonders sein Engagement hervor. Er wollte uns ein Stück Zeitgeschichte, in die anthroposophisches Denken einfloss, vermitteln.

Renate Riemeck zitiert in ihrem Buch Rudolf Steiner und seine Gedanken zu den Ereignissen, z. B. auch den Gedanken der sozialen Dreigliederung.

Nachdem mir das jetzt nochmal klar wurde, habe ich mich mit Renate Riemeck und dem Buch an sich beschäftigt.

Ich musste mir nämlich ein neues kaufen. Mein Exemplar, gekauft 1993, von der Edition Babelturm, löste sich in seine Bestandteile auf. Es war lästig geworden beim Lesen die sich ablösenden Seiten zu jonglieren. Das neue Buch war die vierte Auflage 1997 im Verlag Engel&Co. Hierin fand ich ein Nachwort von Renate Riemeck.

Sie schildert, dass Anlass des Buches „die fünfzigjährige Erinnerung an den Ausbruch des ersten Weltkriegs von 1914 und die vorangegangenen temporären Ereignisse sowie das nachfolgende Geschehen in der Mitte Europas, in Deutschland und Österreich also“ war. Das war 1964, als sie in der anthroposophischen Zeitschrift „Die Kommenden“ schon mehrere Aufsätze zur Zeitgeschichte anonym veröffentlicht hatte und die nun zu dem Buch wurden.

Außerdem erfahre ich, dass sie sich bereits kurz nach dem Abitur (1939) der damals verbotenen Anthroposophischen Gesellschaft angeschlossen hatte. Das erfährt man nicht aus anderen Darstellungen ihrer Biografie und ich weiß nicht, ob das eine Rolle spielte in ihrer Karriere.Beim Klappentext der Edition Babelturm heißt es, dass sie „wegen politischer Differenzen mit dem Kultusministerium in Düsseldorf aus dem Staatsdienst 1960 ausgeschieden“ sei.

In dem Porträt von Marie-Luise Bott, taz 1990, heißt es: 

  • „Freie Publizistin wurde Renate Riemeck notgedrungen. Die 1920 in Breslau geborene Historikerin, die mit 23 Jahren mitten im Nationalsozialismus über die Verfolgung Andersdenkender — eine Thüringer Ketzerbewegung des Spätmittelalters — promoviert hatte, wurde nach dem Krieg Deutschlands jüngste Professorin an der Pädagogischen Hochschule in Braunschweig. Damals bereits hatte sie die Sorge für die beiden Töchter ihrer frühverstorbenen Jenaer Studienfreundin Ingeborg Meinhof übernommen. Ab 1955 lehrte Renate Riemeck in Wuppertal. Als gute Pädagogin kann sie nicht tatenlos zusehen, wie die Regierenden unter Konrad Adenauer ihre Lektion in Geschichte nicht lernen und die Bundesrepublik schon 1953 wiederbewaffnen wollen. Sie wird Mitglied der „Aktionsgemeinschaft gegen die atomare Aufrüstung der BRD“ und im „Aktionsausschuß der Jugend aus Hütten und Schächten gegen den Atomtod“. Sie erträgt den Rückfall in militaristisches Denken nicht, unterstützt die „Ohne mich“- Bewegung und wird 1960 zur Vorsitzenden der deutschen Sektion der „Internationale der Kriegsgegner“ gewählt. Sie spricht auf Versammlungen, offenbar damals schon eine glänzende Rednerin. Man dankt es ihr nicht. Das erste Disziplinarverfahren vor dem nordrhein-westfälischen Kultusministerium 1959 geht noch einmal gut ab.“

1960 kam es dann aber doch zu dem „Ausstieg“, den sie im Nachwort (4. Auflage, Engel&Co.) so begründet, wie auch die Anonymität ihrer Aufsätze:

  • „ Ich galt als „politisch angeschlagen“, weil ich zu unabhängig vom damals bestehenden Ost/West-Konflikt gedacht und geredet hatte und deshalb von vielen Zeitgenossen als halbe oder ganze Kommunistin betrachtet wurde. Aus diesem Grunde hatte ich beschlossen, meine beamtete Professur aufzugeben und als freie Schriftstellerin zu arbeiten.“


Etwas mehr über diese Zeit erfahre ich in einem Interview, das Alice Schwarzer für „EMMA“ 1989 mit R. Riemeck geführt hat:

  • „1958 habe ich dann noch einen kritischen Artikel über den sehr reaktionären, demagogischen und verdummenden Wahlkampf von Adenauer geschrieben. Das war wohl zu viel. Jetzt wurde ich in der konservativen Presse angegriffen. „Professor Riemeck prüft Marx", hieß es. Das war der Auslöser der ganzen Hatz. Das Ulkige war, dass ich noch nicht mal Marx geprüft hatte - und wenn, warum nicht - sondern dass ein Kollege das getan hatte. Das hat mich am meisten gekränkt.
  • Das war ja die Zeit der McCarthy-Prozesse in den USA und des KP-Verbotes in der BRD. Adenauer ließ Kerzen „für unsere Schwestern und Brüder drüben" in die Fenster stellen, und Brandt hielt als Berliner Bürgermeister flammende, antikommunistische Reden. Das Ausmaß der antikommunistischen Hetze kann man sich heute, 20 Jahre nach 68 und auf dem Höhepunkt der Gorbi-Euphorie, kaum noch vorstellen.

       Ja, und es war auch ganz klar, dass es zu diesem Zeitpunkt in der Bundesrepublik darum ging, ob wir einen Rückfall in die            Obrigkeitsstaatlichkeit zulassen und eine Militarisierung allen Denkens und Fühlens. Jemand wie ich musste da einfach

       mundtot gemacht werden, weil ich die Wirklichkeit sagte.

  • Was war die Wirklichkeit?
  • Nie wieder Krieg! Und dass wir als Deutsche nicht in das westliche Militärbündnis gehören, sondern als Mitteleuropäer unsere Verbindung zum Osten erhalten müssen. Und dann kam auch noch die Gründung der DFU - nun stand ich endgültig unter Verdacht, von der „Zone" vereinnahmt worden zu sein.“

In diesem Interview führte Alice Schweizer Renate Riemeck so ein:

  • „Renate Riemeck, 1950 jüngste Professorin in der Bundesrepublik. Um 1958 Vorbild aufmüpfiger Studentinnen nicht nur in Wuppertal (wo sie an der Pädagogischen Hochschule unterrichtete). Um 1960 ein öffentlicher „Fall" und erstes Opfer der Berufsverbote, Grund: angebliche „Ostkontakte". 1961 Mitbegründerin und Vorsitzende des Grünen-Vorläufers DFU (Deutsche Friedensunion); eine Partei, die schon damals gegen Atomwaffen und Aufrüstung, für Frieden und den Dialog mit dem Osten kämpfte. Und, nicht zuletzt - soziale Mutter von Ulrike Meinhof und über Jahrzehnte deren geistiges wie politisches Vorbild.“


Von Anfang an begleitete mich Unwissende beim Lesen des Buches die Frage, wieso Mitteleuropa? Was ist gemeint? Und wieso immer der Fokus auch auf Österreich? Erst das Nachwort in der Engel-Ausgabe von 1997 brachte mir mehr Klarheit und wirkte ähnlich einem Schlüssel für ein besseres Verständnis:


  • Riemeck: „Man sollte wissen, dass der hier vorliegende Text 1964 geschrieben wurde, und auch, warum ich ihn unter den Begriff „Mitteleuropa“ gestellt habe. Über „deutsche“ Geschichte wollte ich nicht schreiben. Nationalismen waren und sind mir fremd geblieben. Außerdem war das Jahr 1964 in der westdeutschen Bundesrepublik schon reichlich national empfunden worden.
  • Man dachte, hörte und las viel über den Kriegsausbruch von 1914, die sogenannte „Einkreisung“ der „Mittelmächte“ durch die „Entente“, die Vorgeschichte zum ersten Weltkrieg, seinen Verlauf und sein unglückliches Ende. Da muss man sich doch zu Wort melden. Indem ich mich nun mit der deutschen Vergangenheit befasste, wurde mir klar, dass sie eng mit Österreich zusammenhängt und also „mitteleuropäisch“ betrachtet werden musste.
  • Als der große Bismarck das Habsburgerreich abgehängt und an den Rand Mitteleuropas gedrängt hatte, ahnte er nicht, welch dramatische Geschichte er einleitete. Man muss sich also mit der ganzen Mitte Europas befassen, nicht nur mit der deutschen Vergangenheit.“

In dem Buch findet sich ein Memorandum von Rudolf Steiner vom Juli 1917. Beim Lesen kam mir der Gedanke, ob er hier auch so etwas wie ein „window of opportunity“ beschreibt, so wie Klaus Schwab es heute sieht für eine Zeitenwende, eine „neue Weltordnung“, „The Great Reset“? Während Klaus Schwab ein globales Interesse verfolgt, fragt Rudolf Steiner nach der Bedeutung und dem Weg Mitteleuropas. Diese Begrenzung wirkt ungemein entlastend auf mich. Wenn wir das hinkriegen würden, wäre sehr viel gewonnen.

Dazu passend:


 
Engel&Co. 1997 Vorbemerkungen des Verlages


Angesichts der dramatischen Entwicklung, die Deutschland und Europa seit dem ersten Erscheinen dieses Buches (1965) genommen haben, halten wir eine erneute Auflage für dringend geboten.

Die Hoffnung der Autorin auf einen Bewusstseinswandel haben sich leider nicht erfüllt:

Die Teilung Deutschlands ist beendet und abermals wurde eine Chance zum Umdenken nicht genutzt. Statt seine Lage in der Mitte Europas als Verpflichtung zur Ver-mittlung zu begreifen, sich auf sein Kulturerbe zu besinnen und die damit verbundene Verantwortung gegenüber der Welt, setzt Deutschland erneut auf äußere Macht.

Europa ist nicht das Europa geworden, von dem viele geträumt haben*, sondern ein Wirtschaftsunternehmen, das weder eine einheitliche politische Perspektive, geschweige denn eine echte Vision für die Menschen anzubieten hat.

Alles Streben richtet sich nach Besitz und Reichtum, während der Maßstab für materiellen Wert – das Geld – sich zunehmend von realen Werten entfernt und zu einem eigenständigen Wert pervertiert.

Eine auf diese Illusion gegründete Macht hält die Menschen davon ab, sich auf sich selbst zu besinnen, wirkliche Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen und zukunftsweisende Ideen aufzugreifen.

Die hervorragende Darstellung von Frau Prof. Riemeck über die Entwicklung Mitteleuropas seit Bismarck gibt dem Leser einen klaren und nachvollziehbaren Überblick über die Ursachen der heutigen kaum durchschaubaren Situation. Sie ist geeignet, die Leser zum Nachdenken anzuregen und ihre eigene Stellung als Teil einer politischen Gesellschaft zu überprüfen.


*z. B. Denise de Rougemont (Begründer des „Centre Européen de la Culture“ in Genf, dessen 1980 im Klett Verlag erschienenes Buch „Die Zukunft ist unsere Sache“ nichts von seiner Aktualität verloren hat).


Nach fünfundzwanzig Jahren sind diese Sätzen noch gültig, wirken aber bei dem täglichen Verfall der Kultur und des Verstandes, vor allem bei Politikern, etwas schwach. Damit meine ich auch die Selbstverständlichkeit, dass Politiker „zwitschern“. Ist doch irgendwie bescheuert, oder? Neben all' dem Unsäglichen, das täglich geschieht, scheint das banal zu sein, für mich aber ein Beispiel des kulturellen Verfalls (das gab's zu meiner Zeit nicht ;)). Es wird anscheinend nicht mehr nachgedacht und Aussagen sind wenige Stunden später ungültig, vergessen, bedeutungslos. Unser aller Leben wird eingeschränkt und wir werden gedemütigt (Masken, Regeln) aufgrund von Modellrechnungen, sei es die sogenannte Pandemie oder die Gaskrise.

Unsere Politiker haben den Bezug zum wirklichen Leben und ihre Verantwortung uns, der Gesellschaft und diesem Land gegenüber verloren. Und anscheinend auch ohne Blick auf Konsequenzen und eine lebenswerte Zukunft. Währenddessen leben wir alle in Blasen hinter Pseudonymen und Masken und sehnen uns nach echter Gemeinschaft und/oder Beachtung.

Es wäre gut mal den Kopf zu heben, die Augen vom Smartphone zu lösen und den Verstand auf das Weltgeschehen und seine Entwicklung zu richten, die Irrwege zu erkennen und uns zu fragen, wohin wir gehen wollen. Es gab schon immer Möglichkeiten, zeitgeschichtliche Momente, wo wir hätten einen anderen Weg einschlagen können, wenn das Bewusstsein dafür dagewesen wäre. Zuletzt vielleicht 1989.

Auszug aus dem Vorwort zu der Ausgabe von der Edition Babelturm, 1990:


„Auch ist drittens der Zeitpunkt nicht zufällig, in dem dieses Buch zum erstenmal in der DDR erscheint, hat doch der von Bürgerbewegungen getragene Aufbruch '89 genau jenes politische Element zum Tragen gebracht, das in der Geschichte im Herzen Europas immer wieder Schiffbruch erlitt, scheiterte, denunziert, umgelenkt und bekämpft wurde: Selbständige Menschen machen Politik und nicht Staaten; das Volk schafft sich Organe der Meinungs- und Willensbildung sowie Selbstverwaltung auf allen Lebensgebieten, ohne sich von vermeintlichen oder tatsächlichen Machteliten beherrschen und bevormunden zu lassen!

….....

Bei Riemeck bleibt es die Frage, brennende und leidvolle Frage, die alle zwölf Kapitel ihres Buches durchzieht: Wohin gehst du Mitteleuropa?

Können die Deutschen ihre wiederholten Irrwege (1871, 1914, 1918, 1933, 1945 in zweierlei Gestalt) in den Machtstaat, statt in den Ausgleich zwischen den Weltgegensätzen nach außen – und den zwischen den sozialen Polaritäten nach innen – umkehren bzw. finden? Vielleicht verleiht solches Fragen dem Wort WENDE erst einen geschichtlichen Wirklichkeitsgehalt?"


Heute wird wieder viel von einer Zeitenwende gesprochen. Sie scheint sichtbar in eine Zerstörung hinein zu führen. Aber wann hat es begonnen? Wer zieht die Fäden?

Im ersten Kapitel zitiert Renate Riemeck den schwedischen Historiker Rudolf Kjellen, der von Mächtegruppen spricht, die sich gegenüber standen, deren Bildung schon lange vor dem ersten Weltkrieg abgeschlossen war. Die Spannungen, die zwischen diesen Gruppen bestanden, brauchten nur einen Anlass, so dass sie sich schließlich in dem Weltkrieg entluden. Er sagt, Kjellen, dass der Krieg lange und gut vorbereitet war.


Renate Riemeck zu ihrem Text: „Es soll aber hier der Versuch gewagt werden, einige Geschehnisse und Tatbestände besonders hervorzuheben, die dem Historiker zwar bekannt sind oder sein könnten, in der Geschichtsschreibung zumeist aber eine nur geringe Bewertung erfahren haben, obwohl sie als symptomatische Ereignisse gelten könnten.“ (S.9)


Auch heute gibt es Mächtegruppen im Hintergrund, die in ihrem Interesse eine Zeitenwende herbeiführen wollen, die schon vor langer Zeit vorbereitet wurde. Man spricht vom militärisch-industriellen Komplex, vom Finanzkapital, von alten weißen, sehr reichen Männern, bei denen ich mich frage, was die eigentlich antreibt. Noch mehr Macht? Die Beherrschung der Welt? Ist das Erlangen der Weltherrschaft nicht was für James Bond? Gibt es das im wirklichen Leben? Können wir uns das überhaupt vorstellen?


Ich werde mich nun intensiver mit Geo-Politik beschäftigen und das Buch von Wolfgang Effenberger „Geo – Imperialismus Die Zerstörung der Welt“ 2016, Kopp Verlag, lesen, dass wohl für unsere heutige Zeit das nötige Hintergrundwissen vermitteln will.


Die Vorstellung, dass irgendwo im Hintergrund Fäden gezogen werden, die nur schwer zu erkennen sind, lässt das alltägliche Desaster mehr als ein Beschäftigungs- oder Ablenkungsmanöver erscheinen. Also nicht wirklich wichtig. Doch trotzdem – es ist deprimierend. Aber die Beschäftigung mit den historischen Ereignissen und Entwicklungen

verschafft mir einen innerseelischen Raum, wo ich mich nicht mehr von den täglichen Nachrichten so bedrängt fühle.




https://taz.de/!1744232/       „Ich bin ein Mensch für mich selbst“ Die Historikerin Renate Riemeck.

Ein Porträt ■ Von Marie-Luise Bott

taz vom 14.11.1990


https://www.emma.de/fmt-persons/riemeck-renate

RAF 1989: WIE WAR DAS IN DEN 50ERN?

Edition Babelturm Vorwort 1990