Altersbilder


März 2019


Neulich ist mir zu meiner eigenen Überraschung aufgefallen, dass wir ganz allgemein dazu neigen, gewisse defizitären Erscheinungen automatisch mit dem Altwerden zu  verbinden. Jemand hat seinen Schlüssel verlegt – erster Gedanke: ich werde alt. Oder es fällt jemandem ein Begriff, ein Name gerade nicht ein – oh je, ich glaube, ich werde alt, ist der spontane Kommentar. Fragt man nach, ob derjenige wirklich denkt, dass es mit dem Alter zusammenhängt, wird es natürlich zurückgewiesen, denn jeder weiß, dass es einem Dreißigjährigen genau so passieren kann. Nachdem es mir einmal aufgefallen war, stellte ich fest, dass wir sehr oft diese Bemerkung machen, öfter als uns gut tut.

Woher kommt das? 

Es scheint so, als ob sich ganz hinten in unserem Gehirn ein defizitäres Altersbild eingenistet hat und unbewusst wirksam ist. In seinem Buch „Die Macht der inneren Bilder“* beschreibt Gerald Hüther, Neurobiologe, wie unser ganzes Leben bis in die kleinste Zelle hinein, sich auf der Grundlage von inneren Bildern entwickelt. Die inneren Bilder bestimmen unsere Vorstellungen von der Welt und wie wir Denken, Fühlen und Handeln (Klappentext). Sie hängen mit unseren Wahrnehmungserfahrungen zusammen, dienen einerseits der Stabilität im Sinne eines Wiedererkennens und einer Übereinstimmung und andererseits der Problemlösung und Bewältigung von Herausforderungen. Sie werden geprägt von der Umgebung, in der wir leben und von unseren Erfahrungen. Sie können starr sein oder aber auch offen und neue Erfahrungen zulassen, heißt, dass ein Bildmuster modifiziert und angepasst wird.

In jeder Legislaturperiode lässt die Bundesregierung sich einen Bericht zur Lage der älteren Menschen in der Gesellschaft vorlegen. Der 6. Altenbericht 2010 stand unter dem Motto „Altersbilder in der Gesellschaft“ und machte deutlich, dass das Altersbild in vielen Bereichen der Gesellschaft von Krankheit und Defiziten geprägt ist. Dies entspräche aber nicht der Realität. Die damalige Bundesministerin Kristina Schröder sagte in der Vorstellung des Berichtes:

„Kein Lebensabschnitt ist so vielfältig wie das Alter. Wir müssen ein realistisches und differenziertes Bild vom Alter zeichnen. Oft übersehen wir, dass wir in der Phase zwischen 65 und 85 einen historisch neuen Lebensabschnitt geschenkt bekommen haben. Die meisten Menschen erleben diesen Abschnitt nicht in Krankheit und Gebrechlichkeit, sondern aktiv und gesund. Diese Potenziale des Alters müssen wir stärker nutzen. Wir müssen Alter neu denken.........Altersbilder haben Einfluss darauf, was jüngere Menschen für ihr Alter erwarten und darauf, was Ältere sich zutrauen.“

Also – wie entsteht nun ein neues Altersbild? In den Medien begegnet uns ein Altersbild, dass mehr die aktive und gesunde Seite des Alters in den Vordergrund rückt. Ständig werden uns aktive, sportliche und zufriedene Alte präsentiert. Und wir sind keine Alten mehr. Wir sind Senioren und Seniorinnen, best agers oder silver agers, die eine gewisse Jugendlichkeit, Unternehmungs- und Lebenslust  ausstrahlen. Und, wie mir scheint, so auch nur Anerkennung finden. 

Wenn ich ehrlich bin, dann hat das 'neue' Altersbild in meinem Kopf schon seine negative Wirksamkeit entfaltet. Ich hadere mit meinen Einschränkungen, habe Schuldgefühle, wenn ich mal keine Lust auf Bewegung habe und es deprimiert mich, wenn ich mit lauter Altersgenossen_innen ein Wartezimmer bei egal welchem Arzt bevölkere. Und mich ärgert eine ganz bestimmte Werbung für eine Wundersalbe ganz besonders. Dort sehen wir einen kleinen Jungen, der offensichtlich seine Oma besucht und eine Schnute zieht, weil es dort langweilig ist. Aber, oh Wunder, die Oma hat die Salbe benutzt und springt und tobt mit ihrem Enkel durch den Garten. Besonders schlimm finde ich den Satz, der dann am Ende aus dem Off kommt. Wir hören eine Kinderstimme, die sagt: „Ich liebe meine neue Oma!“

Da werden gleich ganze Generationen mit dem 'neuen' Altersbild gefüttert. Alle, die ihr Schmerzen habt, nicht mehr so gut laufen könnt und, um noch einen weiteren Aspekt zumindest zu erwähnen, nicht über die finanziellen Mittel verfügt, wofür sollen eure Enkel euch noch liebhaben? 

Und dann bin ich auch noch selber schuld. Vielleicht ernähre ich mich nicht richtig, bewege mich zu wenig und nehme vor allem nicht die angepriesenen Mittel, die mich angeblich gesund und fit, vor allem geistig fit machen. Bis ins hohe Alter! 

„Oh je“ meint gerade eine innere Stimme: „du bist aber negativ drauf. Das will doch keiner hören. Du brauchst Greta Silver!“ 

Und schon kommt sie mir auf der Titelseite eines Rätselheftes in meiner Apotheke entgegen. Mit einem lachenden Gesicht und der Überschrift „Lebensfreude pur“! Sie ist das neue Vorbild der best agers. Sie macht Mut. Auf ihrem youtube Kanal, bei Talkshows, sogar in einem Artikel in der Zeitung meiner Krankenkasse. Sie ist das personifizierte „Sorge dich nicht, lebe!“ der 70iger Jahre. Sie ist der Liebling der Medien. Sie steht für Lebensfreude, Mut und Jugendlichkeit.

Neulich begegnete sie mir sogar in meinem bevorzugten Modegeschäft, das dänische Mode bis Größe 52 offeriert. Gleich zwei Kundinnen in ungefähr meinem Alter  versicherten mir, wie toll sie ist und dass sie ihre Lebensfreude ansteckend finden. Und ich denke nur, wenn ich so schlank wie sie wäre, müsste ich jetzt nicht in diesem Geschäft stehen.

Brauchen wir ein solches „Vor-Bild“? Ist sie das richtige Gegenbild zu dem defizitären Altersbild? Geht es überhaupt darum? Warum gibt es die vielen Bücher, die uns das Alter als Chance, neue Freiheit oder Geschenk darstellen?

Bestätigt nicht die massive, fast angestrengte Präsentation dieses „neuen Bildes“ das weiträumige Vorhandensein eines negativen Altersbildes sogar?  Gegen das man ankämpfen muss? Ist das „neue Bild“, das gewissermaßen Jugendlichkeit ausstrahlt  das Richtige? Brauche ich nicht ein Altersbild, das in der Lage ist auch Krankheiten und Verluste zu integrieren, die mich nun mal im Alter treffen können? 

Braucht es nicht sogar eine Alterskultur? Eine Gesellschaft, die das Alter nicht mit ihrem Leistungsdenken belegt? Eine Gesellschaft, die die wirklich sehr verschiedenen Wege des Alterns nicht nur akzeptiert, sondern sogar wertschätzen kann? Wo pflegebedürftige Menschen sich nicht als Last empfinden müssen? Wo Kosten und Pflegenotstand uns nicht in Angst und Schrecken und Schuldgefühle versetzt?

Brauchen wir dafür etwa den Mut, der uns mal mehr und mal weniger subtil zugesprochen wird? Ist Greta Silver da sogar das richtige „Bild“, weil sie eine positive und zuversichtliche Haltung  „transportiert“?

Wir brauchen unbedingt Optimismus und Humor, weil Alter eben auch mit Verlusten verbunden ist; Verluste sozialer und körperlicher Art. Und wir brauchen auch Mut. Mut, um uns unserer starren Selbstbilder bewusst zu werden und um sie „auf zu machen“! Und nicht denken: was soll ich in meinem Alter noch lernen mit dem PC umzugehen, oder zu malen, oder anfangen Tagebuch zu schreiben. Oder sich festzulegen nach dem Motto „das ist nicht Meins“, sondern vielleicht auch über sich selbst neue Erfahrungen machen wollen. Kurz, also neugierig bleiben.

Machen wir uns frei! Frei von falschen, vor allem einengenden Vorstellungen, Regeln und Bildern, die nicht zu uns passen und entdecken uns und unsere Möglichkeiten und Potenziale und fügen unserem reichen Erfahrungsschatz ein paar neue Erfahrungen hinzu! Und denken daran, dass heute die Altersphase eine deutlich längere Zeitspanne umfasst, als Generationen vor uns zur Verfügung hatten. Nutzen wir diese Zeit! Für uns und unser eigenes Altersbild!

Und übrigens: Bange machen gilt nicht!


                                                                                      

Mehr denn je
Was heißt das nur, ich werde alt
was heißt das nur, wie soll ich es empfinden
ich kann den Morgenhimmel in mir finden
und Frühlingsstürme – mehr denn je

Was heißt das nur, ich werde alt
was heißt das nur, wie soll man es verstehen
ich kann wohl meine Hände altern sehen
doch schön ist das Berühren – mehr denn je

Mein Körper ist mir Freund
und meine Haut genießt den Wind wie eh und je
und all das, was ein reifer Mensch nicht mehr zu fühlen hat
das fühl ich mehr denn je-

Was heißt das nur, ich werde alt
was heißt das nur, wie soll ich es empfinden
ich kann so viel Verwirrung in mir finden
und ungeduldig bin ich – mehr denn je

Was heißt das nur, ich werde alt
was heißt das nur, wie soll man es verstehen
des Lebens Spuren kann ich auf mir sehen
doch geh ich neue Wege – mehr denn je

Mein Haar das ist schon grau
doch weht der Wind mir´s Gesicht wie eh und je
und all das was ein reifer Mensch nicht mehr zu denken hat
dran denk ich mehr denn je –

Was heißt das nur, ich werde alt
was heißt das nur, wie soll ich es empfinden
ich kann den Morgenhimmel in mir finden
und Frühlingsstürme – mehr denn je

Erika Pluhar (aus: Lieder, Lyrik, kleine Prosa) 

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*Gerald Hüther, Die Macht der inneren Bilder, 2006, Vandenhoeck & Ruprecht