29.3.23
Vergleichen verboten
Warum eigentlich?
Vor ungefähr vier Jahren erzählte mir mein damals 18jähriger Enkelsohn, dass er sich schon mal gefragt hat, wie er sich wohl während des Naziregimes verhalten hätte. Das war auf einem unserer Spaziergänge durch die waldreiche Landschaft des südlichen Ruhrgebiets, also so um Witten herum. Ich liebe diese Spaziergänge, die tiefer gehende Gespräche erlauben oder gar hervorrufen als die im heimischen Wohnzimmer. Und besonders auch diese, mit einem jungen Menschen, der damals, was seine Zukunft anging, ein wenig „in der Luft hing“.
Aber nun hing ich in der Luft. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich mich nie mit der Zeit vor dem Holocaust beschäftigt hatte. Mich nie ernsthaft gefragt habe, wie es dazu kam. Ja, Hitler kam an die Macht, alle haben ihn bewundert und dann offenbarte er seine unmenschliche Seite bzw. setzte sich die Rassenideologie durch.
Als Nachkriegsgeborene lehnte ich jegliches Schuldempfinden ab. Politisch bin ich auch wissensmäßig nie wirklich tief eingestiegen, aber hatte grundsätzlich eine „linke“ Einstellung. Was ich politisch an Wissen aufnahm, hatte eher den Charakter von Glühwürmchen, die frei im dunklen Raum schweben.
Das änderte sich, als ich 2015 in Rente ging, ich mit Zeitüberschuss im Internet die zahlreichen informativen Plattformen entdeckte und lieben lernte. Was mir damit an Informationen und eben auch Wissen zur Verfügung gestellt wurde, begeisterte mich.
Und das alles erlebte eine ungeheure Steigerung während der sogenannten Pandemie und hält weiter an. Es ist ein sehr gutes Gefühl, mehr über Hintergründe zu erfahren, andere Meinungen zu hören und von Psychologen oder Historikern weitere Zusammenhänge und Sichtweisen zu hören. Und da ich gerne lese, war ich dankbar für die vielen Buchtipps, die mich auf diesem Wege erreichten.
Letzte Woche habe ich das Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“ von Alexander und Margarete Mitscherlich ausgelesen. Auch wenn es bei mir diesen kleinen inneren Zweifel an der Freud'schen Triebtheorie gibt, konnte ich das Abwehrverhalten, das Leugnen und bewusste „Vergessen“ nach dem Krieg gut nachvollziehen. Damit auch das Vermeiden einer Aufarbeitung.
Ich gehe davon aus, dass ich mich unbewusst mit der Ablehnung einer deutschen Schuld, daran beteiligt habe. Als 1950 Geborene bin ich ein Wirtschaftswunderkind, das dachte, dass wir von den Alliierten befreit wurden und eigentlich alle Opfer waren. Aus dem o. g. Buch erfahre ich von der deutschen Bereitschaft zur Idealisierung unter Verdrängung moralischer Bedenken, kurz gesagt, ja, es gab dieses bedenkenlose „Führer, wir folgen dir“, was all' das Schreckliche, Unsägliche, zur Folge hatte. Unerträgliche Scham- und Schuldgefühle wurden geleugnet und verdrängt, wahrscheinlich schon vor Kriegsende.
Bei allem Mangel, den ich an Wissen habe, traue ich mich doch mal einen psychoanalytischen Blick auf unsere Zeit zu werfen. Mir kam die Frage, wie sich ein Volk, das hier schwere Schuld auf sich geladen hat, dem aber auch schon eine Generation früher die Schuld am 1. Weltkrieg gegeben wurde, sich im Kollektiv fühlt, als Deutsche.
Seit Generationen sind wir schuldig erklärt worden und haben uns auch schuldig gemacht. Wenn ich heute in der Literatur zur transgenerationalen Weitergabe etwas lese, habe ich den Eindruck, dass das Thema hauptsächlich aus dem Blickwinkel des Opfertraumas betrachtet wird.
Aber wir waren auch Täter. Kann es sein, dass wir das wissen, uns aber nicht bewusst ist und nicht bewusst werden darf? Aber dennoch unser Verhalten bestimmt?
Wie ist die allgemeine Unterwürfigkeit bezüglich der Maßnahmen zu erklären? Oder die Unterwürfigkeit unserer Regierung gegenüber den angloamerikanischen Vorgaben? Warum strengen wir uns so an gute Gefolgsleute zu sein und schicken Nazis Waffen, unterstützen die Ukraine in ihrem russischen (Rassen-)Hass? Ein blinder Fleck? Wollen wir diesmal alles richtig machen? Auch wenn wir uns selber schaden? Ist das Masochismus aus dem (unbewussten) Schuldgefühl heraus?
Das Tabu, das über das Schuldthema nach dem Krieg verhängt wurde, ist m. E. immer noch wirksam. Ich zucke zusammen allein wenn der Begriff Ökofaschismus ausgesprochen wird. Wir dürfen nicht vergleichen, uns nicht an die Zeit vor 1945 erinnern oder Begriffe aus dieser Zeit verwenden. Ja, es gibt Gedenktage, die eifrig befeiert werden. Sie beziehen sich auf den Holocaust. Ja, man gedenkt auch dem Widerstand, wie kürzlich unser Bundespräsident der „Weißen Rose“. Werden sie als Trost benutzt? Einerseits Lippenbekenntnis, andererseits eine Art Abmilderung der Schuld? Seht her - es gab ihn, den Widerstand?
Was wäre, wenn wir uns diesem ausgesprochen schmerzhaften Thema stellen würden? Wenn uns wirklich bewusst würde, wie es dazu kam? Uns unsere deutsche Neigung zur idealisierten Liebe, wie die Mitscherlichs schreiben, u. a. bewusst würde? Wenn wir uns den Erkenntnissen stellen würden? Und auf diesem Weg Zusammenhänge erkennen könnten, vielleicht sogar Mitschuldige entdecken? Oder vielleicht auch sehen, wie uns schon seit Jahrzehnten verboten ist den Kopf erhoben zu tragen? Welches Selbstbewusstsein könnte daraus wachsen? Wie wäre es, wenn die Deutschen daraus ein gutes Nationalgefühl entwickeln könnten? Welche Folgen hätte es für unsere Nachbarn, Verbündete und Partner? Ein Volk, dass sich diesen Erkenntnissen stellt, hätte keine Feinde mehr. Davon bin ich überzeugt.
Vergleichen ist verboten. Man sollte auch besser Worte wie Nation oder Volk nicht zusammen bringen. Wir müssen geografisch weit denken, um zu ahnen, wer uns das verbietet bzw. es verhindert. Und der Vorwurf des Antisemitismus, egal gegen wen er gerichtet ist, soll alle, die es hören, an unsere Schuld erinnern.
Ich denke nicht, dass wir Deutschen von unserem Wesen her gehorsam sind. Wir tragen ein schweres Erbe auf unseren Schultern, dass uns offensichtlich nicht bewusst werden darf.
Wahrscheinlich ist es falsch die heutige Situation so laienhaft aus einem psychoanalytischen Blickwinkel zu betrachten. Auch ist uns das selbst gewissermaßen für unser kleines, ganz persönliches Dasein irgendwie verboten, denn viele Menschen meinen, dass sie das nicht brauchen, weil sie nicht „krank“ wären. Aber wir brauchen das alle. Es sollte Teil unseres Lebens sein: Wir sind auf der Welt, um Bewusstsein und Selbstbewusstheit zu entwickeln.
Selbsterforschung ist Erkenntnisgewinn und verhindert den Wiederholungszwang, im ganz persönlichen Leben als auch für Gruppen oder auch Volksgemeinschaften. Natürlich ist man nie fertig mit einem solchen Prozess. Aber ein Bewusstsein für Prozesse im privaten Leben, in Gruppen, Parteien, unter Völkern oder Nationen könnte eine bessere Welt entstehen lassen. Manchmal denke ich, dass das auch reichen würde. Dann wüssten wir, was wir brauchen, aber auch was „der Andere“ braucht. Und würden es ernst nehmen.
Es würde weniger Menschen geben, die andere herabsetzen, um sich selbst besser zu fühlen. Machtgier fiele es nicht so leicht, Angst und Schrecken zu verbreiten.
Gerade wenn wir hier und heute vergleichen würden, hätten wir eine Chance der Aufarbeitung. Wird das bewusst verhindert?
Es gibt schon sehr viele Menschen, die verstanden haben wie der politische Betrieb läuft, die die Machtinteressen aufdecken und vieles mehr. Aber erst wenn die Menschen verstanden haben, wie sehr sie von den „Knöpfen“ Sicherheit, Gesundheit oder Rettung in ihrem Denken und Handeln in Gang gesetzt werden, wie sehr ihre Fähigkeit zum Mitgefühl missbraucht wird, werden sie diesen aufklärenden Worten zuhören können und anfangen selber zu denken.
Die Zeit ist da.