Gehen 


12. Juni 2019


Heute musste ich die Birke in dem Pflanzkübel auf meinem Balkon anbinden. Der Wind, der Kälte und dunkle Wolken mitbrachte, wehte so stürmisch, dass sie umkippte. Heute werde ich wohl nicht 'gehen' können. Noch Vorgestern war es so schwül, dass ich schon vom Einkaufen nassgeschwitzt nach Hause kam. Da war es mir zu anstrengend zu 'gehen'. Hätte ich einen Hund, dann wären das alles keine Gründe im Haus zu bleiben; ich hätte trotzdem 'raus' gemusst. So ist der einzige Hund, mit dem ich mich beschäftige, mein innerer Schweinehund, der sehr wohl weiß, wie wichtig es ist, dass ich mich mehr bewege. Und eigentlich durchschaue ich auch meine inneren Diskussionen mit ihm. Unweigerlich fällt mir dann immer der Spruch ein: Wer etwas will, sucht Wege. Wer etwas nicht will, sucht Gründe. So finde ich allzu oft einen Grund.

Dabei gehe ich gerne. Je nachdem wo ich unterwegs bin, könnte man es auch als wandern bezeichnen. Aber mir gefällt dieses 'gehen'. So war ich auch sofort von dem Buch „Gehen. Weitergehen: Eine Anleitung“ von Erling Kagge fasziniert. Auf einer Heimfahrt von einem Familienbesuch in Ostwestfalen wurde es mit einer Leseprobe im Radio vorgestellt. Jetzt habe ich es als Hörbuch und begleite Erling Kagge des Abends, bereits im Bett liegend, auf seinen Wegen und vor allem bei seinen Gedanken. Anders als bei manchem Krimi, schlafe ich allerdings nicht ein. Ich bin mit jemandem unterwegs und er erzählt mir, was ihm alles so einfällt, was er schon mal gelesen hat oder auch schon mal erlebt hat, was er über das Gehen denkt und was er an sich oder anderen Menschen beim Gehen beobachtet. Es mag unstrukturiert wirken. Aber ich kenne es. Wenn ich gehe, kommen mir die unterschiedlichsten Dinge in den Sinn. Bin ich mit jemandem unterwegs, so erlebe ich es auch so: unser Gespräch wechselt von Thema zu Thema, spontan und irgendwie unstrukturiert.

Mir gefällt das. Allerdings ist Erling Kagge als Entdecker unterwegs. Mir ist das Gehen wegen meiner Gesundheit und wegen der Natur wichtig. Und ich gehe gerne. Am liebsten gehe ich auf Waldwegen,wo ich nah an den Bäumen bin und vor allem nicht von Fahrradfahrern erschreckt werde. Wo ich in Ruhe Gesichter in Baumrinden entdecken kann und darüber staune, wie auf Abhängen sich riesige Bäume mit ihren Wurzeln in die Erde krallen. Dann fühle ich mich wohl und wünsche mir, dass die Anzahl der 'Geher' zunähme und nicht die der Fahrradfahrer.
Großartige Gedanken kommen mir dann in den Sinn, wie z. B. „es müsste eine Kultur des Gehens“ geben. Nicht immer schnell von hier nach da unterwegs sein, sondern mehr schauen, wahrnehmen, atmen in Ruhe.
Zu meiner Überraschung entdeckte ich vor einiger Zeit im Internet, dass es eine Naturtherapie gibt. Sie kam schon vor einigen Jahren aus Japan zu uns und heißt „Shinrin yoku“, auf deutsch „Waldbaden“. Sie wird in Japan an Universitäten erforscht und gelehrt und im Stressmanagement eingesetzt. Zunächst fand ich das merkwürdig, ja, eigentlich albern, dass so etwas Selbstverständliches und „Billig-zu-habendes“ zur Therapie avancierte. Aber dann fand ich es doch ganz spannend, was Forscher alles Gutes und Gesundes über einen Waldspaziergang herausgefunden haben. Und wenn ich statt 'Waldbaden' besser übersetze mit „die Atmosphäre des Waldes achtsam in sich aufnehmen“ und bedenke, dass dabei sehr, sehr langsam gegangen wird, dann bekommt das doch einen ernsthafteren Charakter. Dann geht es darum, sich wieder geistig und körperlich mit der Natur zu verbinden und sie wirklich wertzuschätzen in dem was sie für uns Menschen bedeutet und zu bieten hat.

Für mich war es immer selbstverständlich mit meinen Kindern regelmäßig in der Natur unterwegs zu sein. Selbst heute noch ist bei unseren Familientreffen an Ostern ein Waldspaziergang obligatorisch. Selbst mit den Kindergartenkindern sind meine Kolleginnen und ich einmal in der Woche zu einem längeren 'Gang' im Park gewesen. Aber ich hatte und habe es auch gut. Neben dem Kindergarten gab es einen natürlichen Park; mit meiner Familie hatte ich bereits wie heute in unmittelbarer Nähe der Ruhr und einer herrlichen Ruhr-Landschaft gelebt.


Die Welt-Gesundheitsbehörde spricht nicht vom Wald, wenn es um unsere Gesundheit geht. Sie empfiehlt täglich 10 000 Schritte zu gehen. Das entspricht ungefähr 6,5 km. In Tests hat man festgestellt, dass selbst Menschen, die von sich den Eindruck haben viel zu gehen, lange nicht auf diese Anzahl kommen. Aber das Thema ist gut bekannt: wir sitzen zu viel, ernähren uns falsch und sind von unserer menschlichen Entwicklung her eigentlich zum Gehen bestimmt. Aber reicht es aus den Körper fit zu halten, um gesund zu sein? Ist das wirklich genug? Oder zweifelt da mein innerer Schweinehund?



Wenn ich heute im Wald unterwegs bin, über Baumwurzeln steige, unter tiefhängenden Zweigen mich wegducke, frage ich mich, ob mir das hilft meine Beweglichkeit und vor allem meinen Gleichgewichtssinn zu behalten, also lange zu behalten. Ich sehe so viele ältere Menschen, die Schwierigkeiten haben zu gehen, die sich auf einen Rollator stützen müssen. Das macht mir Angst. Auch wenn ich eindeutig zu viel sitze, so kann ich doch (noch?) jederzeit 'losgehen'. Und das sollte ich auch unbedingt tun. Gleich Morgen. Wenn das Wetter besser ist.




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"Besteige die Berge/ und empfange ihre Neuigkeiten. / Der Frieden der Natur/ wird in dich hineinfließen,/ wie der Sonnenschein in Bäume fließt./ Die Winde werden ihre Frische in dich hineinwehen,/ die Stürme ihre Energie,/ während deine Sorgen/ wie Blätter im Herbst/ von dir abfallen werden."

(John Muir)

Quellen:
* Erling Kagge, Gehen. Weitergehen. Eine Anleitung  Insel Verlag 2018
   Der Abenteurer und Weltenwanderer Erling Kagge hat sich auf eine meditative Reise begeben, Philosophen, Autoren 
   und Weggefährten befragt und mit seinen Füßen die Welt ausgeschritten und vergrößert. Das können wir auch. 
   Denn „alle Menschen sind geborene Entdecker“. 

* www.waldbaden.org/definition-waldbaden/
   Waldbaden - Definition von wissenschaftlicher Seite

Wie ist der Begriff "Waldbaden" entstanden und was verstehen Wissenschaftler darunter?

1982 regte die staatliche japanische Forstbehörde an, Ausflüge in den Wald als Bestandteil eines guten Lebensstils zu integrieren. Japanische Wissenschaftler haben mittlerweile anhand verschiedener Studien entdeckt, dass der Aufenthalt im Wald wie eine Art Aromatherapie wirkt, die für die Gesundheit förderlich ist. Längst ist "Shinrinyoku", zu Deutsch "Waldbaden", in Japan auch zu einer anerkannten Stress-Management-Methode avanciert und wird vom japanischen Gesundheitswesen gefördert.

Durch das Einatmen der ätherischen Öle, die die Bäume in die Luft abgeben, wird unser Immunsystem gestärkt. Unser Körper produziert aufgrund der in der Waldluft enthaltenen Terpene verstärkt so genannte Killerzellen, die gegen Krebs wirken. Studien haben ferner ergeben, dass sich durch den Aufenthalt im Wald Angstzustände, Depressionen und Wut verringern, Stresshormone abgebaut werden und die Vitalität steigt.
(Quelle: "Effect of forest environment on human immune function" (Qing Li) )

Dabei ist es nicht notwendig, sich beim Aufenthalt im Wald körperlich sehr anzustrengen, sportlich zu wandern etc. Bereits ein gemütlicher Spaziergang im Wald wird bei den Japanern als "Shinrinyoku", also als "Waldbaden" bezeichnet.

Seit 2012 existiert an japanischen Universitäten ein eigener Forschungszweig. Die "Forest Medicine" bzw. "Waldmedizin" begeistert mittlerweile Wissenschaftler auf der ganzen Welt. Vor allem Großstadtmenschen wird der Aufenthalt im Wald regelrecht "verordnet". Dazu hat man spezielle Waldgebiete zu Wald-Therapiezentren ernannt.