Das Zeitalter des „wahrscheinlich“


  1. 11. 2021


Wahrscheinlich wird es Tausende Schwererkrankte und Tote geben. Wahrscheinlich wird es nicht genug Intensivbetten geben. Wahrscheinlich werden unsere Krankenhäuser überlastet sein. Wahrscheinlich kann nicht jeder behandelt werden. Wahrscheinlich wird Triage angewendet. Wahrscheinlich …...

Wahrscheinlich wird es bald kein Bargeld mehr geben. Wahrscheinlich wird unsere Wirtschaft einen Kollaps erleben. Wahrscheinlich …...

Wahrscheinlich werden große Teile der Niederlande überflutet werden. Wahrscheinlich wird die Dürre sich weiter ausbreiten. Wahrscheinlich werden zahllose Afrikaner nach Europa fliehen. Wahrscheinlich …..

Wahrscheinlich schützt die sogenannte Impfung. Oder wahrscheinlich auch nicht.


Und die zahlreichen medialen Bilder, Fotos und willkürliche Filmschnipsel aus Krankenhäusern, von Sturmfluten, von Flüchtlingen, schaffen ein Empfinden von Realität. Eine große Furcht wird erzeugt und es gelingt uns so nicht mehr noch wahrzunehmen, wie oft der Konjunktiv und Formulierungen wie „man befürchtet“ bzw. „ist zu befürchten“ benutzt werden.


Ich glaube in den 70igern gab es mal ein Buch, das hieß „Sorge dich nicht, lebe“. Ich erinnere mich wage nur an einen Vorschlag: Schreiben Sie jede Sorge auf einen Zettel und legen den in eine Schublade. Nach einem halben Jahr schauen Sie nach welche Sorge berechtigt war. Sie werden feststellen, nur sehr wenige, vielleicht auch keine.


In Anbetracht der Beschreibungen, Erzählungen, Nachrichten und Argumente, egal in welchem Medium, scheint es mir extrem leichtsinnig heute einen solchen Ratschlag zu geben oder gar zu beherzigen. Es herrscht Alarmstufe. Code red.


Mein Reptiliengehirn reagiert mit Starre, mit Lähmung, die einem Sich-Totstellen gleichkommt. Andere Gehirne reagieren mit Flucht und wieder andere mit Angriff.

Wobei Letztere mir leid tun. Was wollen sie angreifen? Wo ist der Feind? Wo die Front? Womit angreifen?


Und wohin laufen die Flüchtenden? Zu flüchten bedeutet, dass man alles mögliche auf sich nimmt, um sich wieder sicher zu fühlen. Bedeutet auch, dass man ganz viel zurücklässt, nicht nur Materielles, sondern auch Familie und Freunde, die Heimat. Das wichtigste ist, wieder einen Ort der Sicherheit zu erreichen. Ob das eintritt und wieweit es so sein wird, könnte man ja mal die Flüchtlinge aus Nah Ost fragen.

Im Moment sieht es für mich so aus, dass die Flucht in die Anpassung, in die Arme der Regierungsversprechen Sicherheit verheißt. Im Schoß der Mehrheit sind wir richtig, gehören dazu, gibt es keine Bedenken mehr. Die da oben werden es richten – da bin ich mir sicher. Wahrscheinlich waren die Maßnahmen effektiv und wahrscheinlich ist zu befürchten, dass unsere neue Regierung genauso effektiv und intensiv etwas gegen den Klimawandel unternehmen wird.

Falls man also trotzdem noch irgendwie angespannt sein sollte, gibt es wertvolle Ratschläge:

gesund ernähren, in den Wald gehen und nicht rauchen. Zweidrittel davon erfülle ich hingebungsvoll. Wenn es mal nicht reicht, dann meditiere ich. Soll helfen, wie auch einen sicheren Ort visualisieren.


Da war ich doch neulich unterwegs, wie auch immer, und ging einen schmalen Bergweg hinauf. Das war mühselig, weil ich einen schweren Rucksack auf meinem Rücken trug. Da kam ich zu einer Lichtung, eine herrliche Blumenwiese bot sich meinen Augen dar, umstellt von kräftigen Bäumen, deren grünes Laub lichtdurchflutet einen wunderbaren Schutz bildeten und mir ein tiefes Gefühl von Geborgenheit vermittelten. Es gab zu meiner Freude sogar eine Bank, auf die bereits ein alter Mann sich anscheinend ausruhte. Als ich näher kam, sah ich, dass sein weißer Bart merkwürdig zuckte. Der Mann weinte. Ich wusste nicht was ich tun sollte.

Von Natur aus bin ich nicht der Mensch, der spontan auf andere Menschen zugeht oder deren Nähe sucht. Ich bleibe lieber auf Abstand. Aber hier, unter diesem blauen Himmel, bei dem herrlichen Sonnenschein, fasste ich mir ein Herz und fragte:“Was ist dir, Oheim?“

Ach nein, so nicht. Das ist aus Parzifal. Ich fragte:“ Entschuldigung, kann ich was für Sie tun?“ Der alte Mann antwortete mit brüchiger Stimme: „Das glaube ich nicht, junge Frau.“ Es ist merkwürdig. Seit ich über 60 bin, werde ich sehr oft mit „junge Frau“ angesprochen. Habe mich schon daran gewöhnt. Also ging ich darüber hinweg und fragte: „Möchten Sie gerne allein sein?“ Da schaute er auf und fragte: „Gehören Sie auch zu den Menschen, die über die alten weisen Männer nur noch schimpfen und sie am liebsten tot sehen wollen?“ „Aber nein“ stotterte ich, völlig verwirrt. Die Gedanken überschlugen sich in meinem Kopf (gibt es alte, weise Männer?/ich hasse es, wenn alte Männer mir die Welt erklären wollen) und plötzlich hörte ich mich sagen „ das ist ein Irrtum. Die Menschen schimpfen über die alten, weißen Männer, die Macht haben und unser aller Leben bestimmen wollen. Sind Sie so einer?“ Da ging ein Schmunzeln über sein Gesicht und er sprach: „Alt und weiß bin ich schon. Aber Macht besitze ich nicht, hätte sie aber gerne.“ Dabei wandte er seinen Blick traumverloren in die Ferne. Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht und machte einem kummervollen Ausdruck Platz. Noch so eine Merkwürdigkeit – wenn ich im Ansatz merke, dass man bei mir Mitleid erregen will, reagiere ich genervt und abweisend. Ziemlich spöttisch fragte ich also: „Und? Wenn Sie Macht hätten, was täten Sie dann damit?“ „Wenn ich Macht hätte und die Menschen würden mir zuhören, mir vertrauen, dann würde ich ihnen sagen, dass alles gut wird. Wahrscheinlich.“


Leseempfehlung: Die kluge Else, Gebr. Grimm

Meine Deutung: Befürchtungen auf eine wahrscheinliche Zukunft gerichtet, verhindern zu handeln und die verlorene Fähigkeit zu handeln und für sich existenziell zu sorgen wird einem kurzfristigen Wohlgefühl geopfert und führt letztlich zu einem Verlust des Selbst-Seins oder anders ausgedrückt, zu einem Identitätsverlust.

Alle Beteiligten bestätigen Else in ihrer Klugheit. Als die Wahrheit erkannt wird, bekommt sie Schellen umgehängt, läuft damit rasselnd umher, aber niemand wollte sie noch kennen.

Gunther Schmidt, system. Hypnotherapeut: Gedanken, die in die Zukunft weisen, sind im Prinzip Fantasie.

Die kluge Else